Die verflogene Scham unbezahlter Rechnungen Hinzugefügt am 16. November 2020 | by Markus Zöbeli | Uncategorized | (Textauszug Regio / Züriost vom 12. November 2020 / von David Marti) Pfändungen, Beschimpfungen und die Angst ums eigene Leben. Stadtammann und Betreibungsbeamter Mario Borra hat sich bis zu seiner Frühpensionierung 27 Jahre mit Schuldnern und Gläubigern herumgeschlagen. In manchen Fällen musste er bis in die Schlafzimmer von verschuldeten Menschen eindringen. Es ist ein unscheinbarer Eingang, der ins Betreibungsamt Uster führt… Für Mario Borra ist das für Kunden, die nicht gerne beim Betreten des Betreibungsamtes gesehen werden, ein Vorteil. „Kunden“ so nennt Borra Schuldner, Gläubiger und andere, die das Amt aufsuchen. „Als ich 1994 die Arbeit anfing, haben sich die Leute noch wegen ihrer Schulden geschämt“, sagt Borra in seinem Büro. In der heutigen Konsumgesellschaft sei das anders. „Da plaudern auch mal zwei zusammen und fragen sich gegenseitig nach der Höhe der Schuldenlast und welches Luxusauto sie fahren.“ … Für Mario Borra kann daraus folgen, dass er unangekündigt zu den Leuten nach Hause geht, und in ihrer Wohnung nach pfändbaren Wertgegenständen wühlt. Dazu gehören etwa Schmuck, Bilder oder Fernseher. Dagegen muss er beispielsweise das Bett oder einen Tisch stehen lassen. „Der Kunde muss sämtliche Behältnisse auf unsere Aufforderung öffnen. Macht er das nicht, öffnen wir sie“. Wehrt sich jemand dagegen, ruft er die Polizei, sagt Borra. Pfändungen seien für die Betroffenen oft schwierig. „Das ist ein starker Eingriff in die Privatsphäre.“ Einen tragischen Vorfall erlebte Borra, als er einen Schuldner in einem alten Haus aufsuchte. „Ich stieg eine dunkle steile Holztreppe empor und habe plötzlich meinen Kopf an zwei baumelnden Füssen gestossen. Der Mann hatte sich erhängt.“ Beleidigungen und Drohungen Als Betreibungsbeamter und Stadtammann muss Borra eine dicke Haut haben. Beschimpfungen und Beleidigungen musste er in seiner Berufslaufbahn immer wieder erdulden. „Hurensohn, verlogener Drecksau-Tschingg oder eine schriftliche Anrede ‚an die Wixer vom Betreibungsamt'“, nennt Borra als Beispiele. Einmal habe er gar um sein Leben fürchten müssen. Ein Schuldner sei eines Tages mit der geladenen Waffe in seinem Büro aufgetaucht. „Der Mann hat schon im Vorfeld gedroht, mich zu erschiessen“, sagt Borra. Doch so weit kam es nicht. „Wir haben sofort die Stadtpolizei alarmiert. Als der Bewaffnete dies bemerkte, flüchtete er.“ Zuhause wurde der Mann verhaftet, doch abermals drohte er Borra mit der Erschiessung. Der Stadtamman erhielt daraufhin Polizeischutz… Zwangsräumung von Wohnungen Als Stadtammann habe er noch weitergehendere Aufgaben als diejenigen des Betreibungsbeamten. Dazu gehört das Vollstrecken richterlicher Verbote oder die Beglaubigungen von Unterschriften. Früher wurde der Amtsinhaber vom Stimmvolk von Uster gewählt. Von 1994 bis 2010 wurde Borra ohne Gegenkandidat gewählt. 2010 wurde diese Volkswahl in Uster abgeschafft und er per Arbeitsvertrag angestellt. Auch Zwangsräumungen von Wohnungen gehören zum Beruf. Borra sagt, er treffe bei Zwangsräumungen immer wieder auf Wohnungen, die zugemüllt oder deren Briefkästen zum Bersten voll seien. Oft hätten sich diese Leute aufgegeben, seien verwahrlost. Schicksale, die den 60-Jährigen nicht kaltlassen. „Wichtig ist, dass wir im Team über belastende Fälle sprechen und nichts in uns reinfressen“, sagt Borra. Dabei helfe ihm auch Bewegung. „Ich versuche das an der frischen Luft mit Velofahren oder joggen zu verarbeiten. Es gebe immer auch Leute, die unverschuldet Rechnungen nicht mehr bezahlen könnten. Die ausgesteuerten Arbeitslosen, die keinen Job mehr finden. Vielfach seien das ältere Leute, sagt Borra. „Wer einmal in den Schulden steckt, kommt nur schwer wieder raus.“ Auch nach der Pensionierung will Borra noch hin und wieder temporär als Betreibungsbeamter arbeiten. Entsprechende Anfragen habe er schon bekommen, sagt er. Und sicherlich werde er weiterhin seine Rechnungen pünktlich bezahlen. „Das ist das A und O im Leben, das habe ich auch meinen Kindern so mitgegeben.“ Weiterlesen (zum Abo-pflichtigen Artikel in der Regio / Züriost) Zuweilen fliegen Blumentöpfe