Gewalt ist nie besiegt Hinzugefügt am 14. September 2018 | by Markus Zöbeli | Uncategorized | (Textbeitrag NZZ vom 13. September 2018 / Kommentar von Thomas Ribi) Sie schlummert nur. Gewalt erregt Abscheu, fasziniert und macht fassungslos. Aus unserem Alltag ist sie weitgehend verdrängt. So sehr, dass wir nicht mehr angemessen auf sie reagieren können. Von Mob war die Rede, von Hetzjagden auf Menschen, von Pogromen. Der Ministerpräsident von Sachsen dementierte: Was in Chemnitz geschehen sei, lasse sich so nicht angemessen beschreiben. Wie es sonst beschrieben werden müsste, liess er offen. Trauermärsche und friedliche Kundgebungen sehen jedenfalls anders aus. Was sich abgespielt hat, mag im Einzelnen umstritten sein. Fest steht: Die Stadt war Schauplatz offener Gewalt. Es gab keine bürgerkriegsähnlichen Szenen wie bei den Ausschreitungen am G-20-Gipfel in Hamburg vor einem Jahr. Aber Chemnitz befand sich im Ausnahmezustand. Es kam zu Sachbeschädigungen, es gab Verletzte. Wo Gewalt ausbricht, macht sich betroffene Hilflosigkeit breit. Ebenso zuverlässig melden sich die Erklärer zu Wort. Auch diesmal überboten sich Politiker, Soziologen, Journalisten, Philosophen mit Antworten auf die Frage: Wie kann das passieren? Was muss geschehen, dass Menschen ihre Hemmungen verlieren und Übereinkünfte brechen, die das Zusammenleben in einer zivilisierten Gesellschaft bestimmen? Und wie kann verhindert werden, dass das wieder geschieht? Wer so fragt, verlangt nach einer Deutung, die einem Geschehen, das er als sinnlos empfindet, Sinn verleiht. Und vielleicht ist die Frage ja falsch gestellt. Wo über Ausschreitungen und Gewalttaten berichtet wird, ist regelmässig von «sinnloser Gewalt» die Rede. Wohlmeinende wenden dann reflexhaft ein, wer von sinnloser Gewalt rede, kenne offenbar auch Fälle von sinnvoller Gewalt und gestehe ihr damit grundsätzlich ein Recht zu. Das, was wir nicht verstehen Ob Gewalt tatsächlich einen Sinn haben kann, ist eine durchaus berechtigte Frage. Aber die Suche nach einer verborgenen Bedeutung hinter dem, was wir sehen, ist eine Konstante im Gefühlshaushalt des Menschen. Erklären heisst für uns, nach Ursachen suchen, nach Zusammenhängen, die verständlich machen, was wir auf Anhieb nicht verstehen: dass Gewalt immer wieder aufbricht und sich unkontrolliert entlädt. Gewalt fasziniert. Auf manche Menschen übt sie eine derart fatale Sogwirkung aus, dass sie sich ihr nicht entziehen können und in ihrem Strudel versinken. Die meisten aber sind von Gewalt überfordert. Sie stehen wie gebannt, wenn sie sich Bahn bricht, und sind unfähig, auf sie zu reagieren. Denn eigentlich darf es Gewalt nicht geben. Und sie darf nicht mit Gewalt beantwortet werden. Dazu wurden wir erzogen, und das haben wir verinnerlicht wie weniges andere. In der westlichen Welt ist Gewalt geächtet, in der Gesellschaft hat sie keinen Platz mehr. Eine der grössten Leistungen der Aufklärung ist es, die Gewalt im Staat monopolisiert zu haben. Es gibt noch immer Situationen, in denen sie nicht verboten, sondern erlaubt, wenn nicht sogar geboten ist. Aber im Alltag ist ihre Anwendung grundsätzlich untersagt. Ausnahmen sind streng geregelt, beschränkt auf bestimmte Institutionen, Personen, Räume und Zeiten. Unter Privatpersonen hat physische Gewalt keinen legitimen Raum. Das ist ein immenser zivilisatorischer Fortschritt, und es ist Teil einer grossen Verheissung. Das Projekt Moderne ist mit dem Ziel angetreten, eine gewaltfreie Gesellschaft zu verwirklichen. Das ist eine Utopie, und es wird eine bleiben. Aber es ist eine Utopie, die wir ziemlich weitgehend verwirklicht haben, auch wenn wir uns dessen viel zu wenig bewusst sind. Natürlich vergeht kein Tag, an dem wir nicht Meldungen von Krieg und Gewalttaten sehen, lesen oder hören: Trotzdem leben wir, historisch gesehen, in einer beispiellos friedlichen Zeit. Das gilt weltweit, sogar für kriegerische Auseinandersetzungen, aber es gilt vor allem für den Alltag in den westlichen Gesellschaften. Und die Zeit, als es anders war, liegt noch nicht allzu lange zurück. Dass es bei Turn- und Schützenfesten Schlägereien mit Verletzten gab, war im 19. Jahrhundert an der Tagesordnung. Noch vor wenigen Jahrzehnten wäre es niemandem in den Sinn gekommen, bei einer Wirtshausrempelei die Polizei zu rufen, selbst wenn Blut floss. Die Ohrfeige hatte in der Kindererziehung ihren festen Platz, und für Gewalt in der Ehe fühlte sich kein Gesetzgeber zuständig. Heute ist Gewalt weitestgehend zurückgedrängt, ihr Gebrauch mit scharfen Sanktionen belegt. Und das Bemühen, sie in allen Formen zu ächten, geht weit. Auf den Pausenplätzen vieler Schulen stehen Schüler bereit, um einzuschreiten, sobald Kameraden beim Spielen handgreiflich werden, und auf eine friedliche Lösung des Streits hinzuwirken. Auch aus der Sprache wird Gewalt getilgt, wo nur immer möglich: Der Begriff der elterlichen Gewalt etwa ist ersetzt worden durch die elterliche Fürsorge. Das ist politisch korrekt gefärbtes Zeitgeistgetue. Buben, die sich prügeln, brauchen in aller Regel keine Therapie, sondern eine Wiese, auf der sie sich austoben können. Und der Begriff elterliche Fürsorge verschleiert, dass Eltern nach wie vor für ihre Kinder entscheiden. Doch die Beispiele zeigen, dass Gewalt zum Tabu geworden ist. Wir haben gelernt, Gewalt zu vermeiden, ächten sie und verachten die, die sie verüben. Das ist gesellschaftlicher Konsens. Zugleich aber bestimmt Gewalt unser Denken und Empfinden viel stärker, als wir uns das eingestehen. Bei Umfragen in der Bevölkerung gehört die Angst vor zunehmender Gewalt zu den meistgenannten Sorgen, obwohl die Gefahr, Opfer einer Gewalttat zu werden, bei uns so verschwindend klein ist, dass sie statistisch kaum mehr zu Buche schlägt. Unter den politischen Forderungen rangiert diejenige nach härteren Strafen für Gewalttäter weit oben, als ob wir keine grösseren Probleme hätten. In der kollektiven Phantasie spielen Gewalttaten eine erstaunlich prominente Rolle: Nordische Krimis, in denen reihenweise Frauen gefoltert werden, sind Topseller, Actionfilme kultivieren die Gewaltdarstellung als schöne Kunst, und man ist immer wieder erstaunt, wenn an sich durchaus nette Bekannte erzählen, wie gut sie sich bei Ego-Shooter-Spielen entspannen können. Was gibt es da zu verstehen? In unserer Vorstellungswelt ist physische Gewalt vielleicht präsenter denn je, obwohl sie im täglichen Leben der meisten Menschen gar nicht mehr präsent ist. Wir sind kaum mehr mit Gewalt konfrontiert, aber wir nehmen sie umso aufmerksamer wahr. Wir reden auch da von Gewalt, wo kein physischer Zwang mehr ausgeübt wird, sondern wo es um psychischen Druck, Machtverhältnisse und Abhängigkeiten geht. Es ist kein Zufall, dass der Begriff der «strukturellen Gewalt» seinen Aufstieg genau zu dem Zeitpunkt begann, als sich die wahrnehmbare physische Gewalt weltweit einem historisch noch nie erreichten Tiefpunkt näherte. Je weniger wir ihr ausgesetzt sind, umso sensitiver reagieren wir auf Gewalt – auch da, wo wir ihr nur noch als Abstraktum begegnen, als Begriff, als Idee. Und obwohl wir von Gewalt fast magisch angezogen sind, können wir je länger, desto weniger mit ihr umgehen. Wir sind Erben eines Jahrhunderts, das in Auschwitz, im Gulag, in Hiroshima oder Rwanda unnennbare Grausamkeiten gesehen hat. Und wir sind bedroht von einem mehr und mehr entfesselten Terrorismus. Das lähmt uns. Wir sind nicht mehr in der Lage, angemessen auf Gewalt zu antworten, weil wir darauf fixiert sind, sie verstehen zu wollen. Gewalt ist keine Sprache, die auf etwas verweist, keine Geste, die mit Bedeutung aufgeladen werden könnte. Gewalt spricht immer nur von sich. Aber gibt es denn tatsächlich etwas zu verstehen? Steckt hinter einer Bluttat ein verborgener Text, den man entschlüsseln könnte? Sind Ausschreitungen eine Botschaft, auf die man hören müsste? Und müssen wir Gewalt als Form der Kommunikation wieder lernen? Nein. Gewalt ist keine Sprache, die auf etwas verweist, keine Geste, die mit Bedeutung aufgeladen werden könnte. Gewalt spricht immer nur von sich. Der deutsche Literaturwissenschafter Jan Philipp Reemtsma betont, wir täten gut daran, nicht allzu viel Mühe und Empathie darauf zu verwenden, Gewalt begreifen zu wollen. Entscheidend sei, dass wir uns keine Illusionen über sie machten. Das heisst vor allem: sich einzugestehen, dass das Eis, auf dem wir gehen, sehr viel dünner ist, als wir glauben. Gewalt ist nie besiegt. Im Menschen schlummert eine Bestie. Vielleicht in jedem von uns, auch wenn wir davon nichts wissen wollen – gewalttätig sind ja immer die anderen. Gewalt kann jederzeit ausbrechen, wenn Bedingungen herrschen, die sie begünstigen. Die Geschichte zeigt in aller Deutlichkeit, dass es überall Menschen gibt, die bereit sind, gegen andere Menschen Gewalt auszuüben, vor allem, wenn sie glauben, das sei erlaubt oder sogar nötig. Das entlässt uns nicht aus der Verantwortung, im Gegenteil. Gewalt entsteht nicht einfach so. Es liegt an uns. Der Mensch ist die Species, die ihre Affekte kontrollieren, ihre Aggressionen zügeln kann. Sich über Gewalt keine Illusionen machen heisst deshalb auch, ihr mit aller Entschiedenheit entgegenzutreten, sie nicht schönzureden – und anzuerkennen, dass sie manchmal nicht anders bekämpft werden kann als mit Gewalt. Pöbelnde Horden haben nichts anderes verdient.