Kaum Chancen auf Recht Hinzugefügt am 13. Mai 2018 | by Markus Zöbeli | Uncategorized | (Textauszug Beobachter vom 10. Mai 2018 / von Gian Signorell) Wie die Justiz Normalbürger ausschliesst. Enorme Prozesskosten, endlose Verfahren, pingelige Richter: Wer vor Gericht gehen will, muss mit immer höheren Hürden rechnen. Jetzt fordern Experten Korrekturen. Die Justiz in England steht allen offen – wie das ‹Ritz›», soll der irische Richter James Charles Mathew gesagt haben. Sein gutes Recht einfordern konnte im 19. Jahrhundert nur, wer es sich auch leisten konnte, im teuersten Hotel zu logieren – die Reichen unter den Reichen. Was damals für die britischen Gerichtshöfe galt, trifft heute auch auf die Schweizer Justiz zu. Das zeigt etwa der Fall von Fritz Steiger (Name geändert). Als der Chefmonteur mit seinem Lieferwagen an einer Kreuzung vor Auw AG in die Hauptstrasse einbiegt, braust ein Motorrad mit über 130 Kilometern pro Stunde heran. Es kommt zur Kollision. Der Töfffahrer stirbt, Steiger verfällt hinterher in eine tiefe Depression. Er wird invalid. Der tragische Verkehrsunfall verursacht enorme Prozesskosten, obwohl der Fall nicht kompliziert ist. Zum Schluss summieren sich Gerichts- und Gutachterkosten sowie Parteientschädigungen auf 677’000 Franken. «Dass ein Prozess solche Summen verschlingen kann, versteht kein normaler Mensch mehr», sagt der Basler Rechtsanwalt Markus Schmid. Er hat für Fritz Steiger gegen die Haftpflichtversicherung des rasenden Motorradfahrers gefochten und vor Bundesgericht gewonnen. Für den Unfallschaden und die Invalidität musste die Versicherung Steiger mit 780’000 Franken entschädigen. Zwölf Jahre hat der Prozess gedauert. Freuen konnte sich Steiger über seinen Sieg nicht. Nach dem verheerenden Unfall, jahrelangen Querelen mit Behörden und Versicherungen und der Trennung von seiner Frau war der Aargauer zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung ein psychisches Wrack. «Sein Obsiegen quittierte er mit einer wilden Serie von Beschimpfungen und Verwünschungen», erzählt Anwalt Schmid. Steigers Fall zeigt, woran die Justiz neben den exorbitanten Kosten auch noch krankt: Viele Verfahren dauern viel zu lange. Das musste auch Cécile Bonnaire (Name geändert) erfahren. Nach einem siebenjährigen Scheidungsverfahren wurde ihre Beschwerde an das Bundesgericht diesen März abgewiesen. Pech für Bonnaire: Die Bestimmung, zu welchem Zeitpunkt das Pensionskassenguthaben geteilt wird Scheidung Was bringt das Gesetz zum PK-Splitting? , hat am 1. Januar 2017 geändert. Nach altem Recht wäre es das Datum des Scheidungsurteils gewesen, neu ist es das Datum, an dem das Scheidungsverfahren eingeleitet wurde. Bonnaire wurde unter Anwendung der neuen Bestimmung geschieden – und verlor durch die überlange Verfahrensdauer PK-Beiträge von mehreren hunderttausend Franken. Hinzu kommt: Sie muss am Ende gar sämtliche Kosten für das Verfahren vor Bundesgericht tragen. «Gerade bei Eheschutzverfahren wird die Justiz durch die langen Verfahren ad absurdum geführt», sagt der Zürcher Rechtsanwalt Ueli Vogel-Etienne. Das Eheschutzverfahren kommt zur Anwendung, wenn die Frau oder der Mann sich möglichst schnell trennen will, etwa weil der Partner gewalttätig ist. Es regelt unter anderem, wer in der gemeinsamen Wohnung oder im gemeinsamen Haus bleiben darf, wer für die Kinder verantwortlich ist und wer wie viel zum Unterhalt Alimente Wie viel Unterhalt ist angemessen? beitragen muss. Vor allem kurzfristig beschlossene Trennungen sind traumatisch. In diesen Fällen ist es wichtig, dass Entscheide schnell und eindeutig gefällt werden. Das pure Gegenteil trifft auf einen Fall zu, den Vogel-Etienne seit geraumer Zeit auf dem Tisch hat: «Dieses Eheschutzverfahren steht nach geschlagenen fünf Jahren wieder ganz am Anfang.» Das Ehepaar zerstreitet sich im Frühling 2013, im folgenden August reicht die Ehefrau ein Eheschutzbegehren ein, das im Dezember 2014 in erster Instanz entschieden wird. Die Frau geht in Berufung. Der Verdacht taucht auf, der Vater missbrauche die Kinder sexuell. 2016 verlangt das Obergericht ein Fachgutachten, stützt sich aber dann wegen Mängeln nicht darauf ab. Im Oktober werden die Kinder der Mutter zugesprochen, der Vater geht in Berufung. Das Bundesgericht gibt ihm diesen März recht und weist den Fall ans Obergericht zur Neubeurteilung zurück. Pro Partei dürften bis jetzt Kosten von je rund 100’000 Franken angefallen sein. Fast fünf Jahre wurde prozessiert, ohne dass ein Ergebnis vorliegt. Die Familie ist zerstört, die Kosten sind enorm. Das kann es ja wohl nicht sein. Natürlich kann man sagen, diese Ehegatten seien streitsüchtig. Aber genau für solche Fälle sind die Gerichte ja da, damit sie innert nützlicher Frist entscheiden und die Situation beruhigen», so Vogel-Etienne, Rechtsanwalt, mit seinem düsteren Fazit. Angesichts solcher Ergebnisse beschleichen den Zürcher Rechtsanwalt grundsätzliche Zweifel an der Funktionsfähigkeit der Justiz. Ursprünglich, so Vogel-Etienne, sahen es Richter als ihre Aufgabe an, für Gerechtigkeit zu sorgen. Die Rechtsprechung weist, gestützt auf die Europäische Menschenrechtskonvention und andere fundamentale Gesetzestexte, einen minimalen ethischen Gehalt auf. «Eine gerechte Rechtsprechung setzt ethische Werte wie Treue, Ehrlichkeit oder Bescheidenheit voraus.» Davon sei kaum mehr etwas zu spüren. Die Justiz widme sich heute vor allem einer ökonomisch optimierten Fallerledigung und strebe bestenfalls noch eine Verfahrensgerechtigkeit an: Fairness statt Moral. Richter mit „Hirnprothese“ und Revision in Angriff genommen Viele Anwälte äussern noch heftigere Kritik. Der engagierte Zürcher Anwalt Philip Stolkin etwa sagt: «Es ist heute nahezu unmöglich geworden, als Privater einen Haftpflichtprozess gegen eine grosse Versicherung zu gewinnen. Der Schaden muss dermassen präzis und detailliert belegt werden, als hätte die Richterin oder der Richter eine Hirnprothese.» Stolkin erhält Support. Zum Beispiel bei der Substantiierungspflicht, wenn also die klagende Partei möglichst alle Umstände benennen muss, die für den behaupteten Sachverhalt sprechen. «Die Anforderungen an diese Pflicht können heute nur noch mit dem Wort ‹prohibitiv›, also wirklich sehr abschreckend, umschrieben werden», sagt Walter Fellmann, Haftpflichtspezialist an der Uni Luzern. Bei den Parteien und ihren Anwälten entstehe in zu vielen Fällen der Eindruck, das Gericht stürze sich geradezu auf vermeintliche Lücken, um den Fall in Anstand und Würde vom Tisch zu bekommen. Das Unbehagen an der Justiz findet Gehör in der Politik. Seit März läuft die Vernehmlassung zur Revision der Zivilprozessordnung (ZPO). Sie bestimmt die Regeln für zivilgerichtliche Verfahren. Rechtsanwälte, Richter und andere juristische Fachpersonen sind eingeladen, sich bis Juni zu den vorgeschlagenen Änderungen zu äussern. Ein wichtiges Ziel: der Abbau von Kostenschranken. Gemessen an absoluten Zahlen, leistet sich die Schweiz den teuersten Justizapparat Europas. Rund 164 Franken hat die öffentliche Hand pro Kopf 2014 dafür ausgegeben. In den letzten Jahren haben Rechtswissenschaftler begonnen, das wahre Ausmass des Kostenwahnsinns aufzuzeigen. Kritiker der ersten Stunde ist Isaak Meier. Ihm ist es massgeblich zu verdanken, dass der Bundesrat für Änderungen ist. Der emeritierte Zürcher Zivilprozessspezialist hat mit Riccarda Schindler 2015 den aufsehenerregenden Betrag von 342’000 Franken publiziert. So viel kostet im Schnitt ein Haftpflichtfall mit Streitwert 1,5 Millionen Franken, der bis vor Bundesgericht geht. In der Berechnung enthalten sind die Gerichts- und die Anwaltskosten beider Parteien. Meier und Schindler zeigten die grossen Unterschiede kantonaler Prozesskosten auf. Wer einen Haftpflichtfall im Kanton Luzern durch alle drei Instanzen ausfechten will, muss mit Kosten von bis zu 476’000 Franken rechnen. Im Kanton Schwyz gehts günstiger, aber nicht billig. Dort kostet ein Prozess bis vor Bundesgericht im Schnitt 283’000 Franken. «Das lässt sich nicht mehr mit unterschiedlich hohen Lebenshaltungskosten erklären», so Meier und Schindler. Auf Bundesebene ist der Handlungsbedarf erkannt. Bei den Kantonen jedoch scheint das Bewusstsein für die Kostenproblematik zu fehlen. So sagt Roger Schneeberger von der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren (KKJPD): «Die Kompetenz für die Festsetzung der Gerichtskosten liegt bei den einzelnen Kantonen. Die KKJPD hat dazu bisher weder Empfehlungen noch Richtlinien erlassen.» Der Anspruch, dass alle vor den Richter gehen können, ist einer der zentralen Grundsätze eines rechtsstaatlichen Verfahrens. Er ist sogar in der Europäischen Menschenrechtskonvention festgeschrieben. Prozessrechtler Meier aber sagt: «In allen Kantonen sind die Prozesskosten heute so hoch, dass Personen mit einem Durchschnittseinkommen nur prozessieren können, wenn sie enorme Risiken oder gar den wirtschaftlichen Ruin in Kauf nehmen.» Wer über ein sehr kleines oder gar kein geregeltes Einkommen verfügt, hat Anspruch auf unentgeltliche Prozessführung Unentgeltliche Rechtspflege Prozesskosten zurückzahlen? . Als mittellos gilt eine Person, wenn ihr Einkommen das betreibungsrechtliche Existenzminimum um höchstens 500 Franken überschreitet und sie keine Vermögenswerte besitzt. Doch aus dem Schneider ist man damit nicht: Falls ein mittelloser Kläger den Prozess verliert, muss er für die Parteientschädigung der Gegenseite geradestehen. Bei einem Streitwert von 1,5 Millionen Franken – bei Haftungsklagen kein seltener Betrag – kann sich die zugesprochene Entschädigung ohne weiteres auf 100’000 Franken belaufen. 841 Forderungsklagen gingen 2007 im Kanton Zürich ein. 2016 waren es nur noch 362 Die 2011 mit Inkrafttreten der neuen Zivilprozessordnung aufgestellten Hürden blieben nicht ohne Folgen. Eine Erhebung der Fachzeitschrift «Plädoyer» ergab, dass die Zahl der Forderungsklagen, bei denen ein Gläubiger eine Schuld einzutreiben versucht, seither in fast allen Kantonen gesunken ist. Am markantesten im Kanton Zürich: 2007 gingen 841 Forderungsklagen ein, 2016 nur noch 362. Beim Regionalgericht Bern-Mittelland sank in dieser Zeit die Zahl dieser Klagen stark von 307 im Jahr 2007 auf 235. «Die Schweizer Richter nehmen ihre Aufgabe sehr ernst. Sie setzen sich in ihrer täglichen Arbeit dafür ein, dass die Bürgerinnen und Bürger im Rahmen der gesetzlichen Ordnung ihre Rechte auch tatsächlich wahrnehmen können», sagt Patrick Guidon, Präsident der Schweizerischen Vereinigung der Richterinnen und Richter. Die Meinungsbildung zur Revision der Zivilprozessordnung sei derzeit noch im Gang, die Meinungen gingen auseinander. Es ist mehr als fraglich, ob die laufende ZPO-Revision an den aktuellen Missständen viel ändern wird. Die Hoheit über die Gerichtskosten liegt bei den Kantonen, daher musste sich der Bundesrat darauf beschränken, die Vorschussregelung zu entschärfen. Wer ein Zivilgericht anruft, muss heute in fast allen Kantonen die gesamten Gerichtskosten vorschiessen. Besonders stossend: Wenn man gewinnt, zahlt einem der Staat den geleisteten Vorschuss nicht zurück. Man muss ihn bei der Gegenpartei eintreiben. Falls diese kein Geld hat, muss man den Vorschuss abschreiben. Neu soll nun wieder der Staat das Inkassorisiko tragen. Und die Prozessvorschüsse will der Bundesrat halbieren. Weiterlesen. Das soll die ZPO-Revision bringen (in Vernehmlassung): Gerichtskostenvorschüsse sollen halbiert werden. Die obsiegende Partei soll den Vorschuss vom Staat zurückbekommen. Sammelklagen sollen möglich werden.