Schuldenfalle Krankenkasse Hinzugefügt am 23. Dezember 2020 | by Markus Zöbeli | Uncategorized | (Textbeitrag NZZ vom 19. Dezember 2020 / von Reto Flury – mit freundlicher Genehmigung der NZZ-Redaktion zur Verfügung gestellt) Rund 100 000 Betreibungen leiten die Krankenkassen im Kanton Zürich jedes Jahr ein. Die Rechnungen, die offen bleiben, kosten den Staat über 50 Millionen Franken. Doch jetzt tut sich etwas, denn die Stadtammänner der Stadt Zürich wollen diese Schuldenspirale stoppen. Eine ausführliche Reportage. Die Frau hat fast nichts ausser Schulden. Sie wohnt allein in einer einfachen Dreizimmerwohnung, besitzt zwei Lebensversicherungen, und ihr Kleinwagen (Schätzwert: 800 Franken) weist schon einige Kratzer auf. Der Lohn wird ihr gepfändet. Vom monatlichen Nettoverdienst von 4200 Franken erhält die Detailhändlerin jeweils 2700 Franken, das vom Betreibungsamt errechnete Existenzminimum. In diesem Betrag nicht berücksichtigt ist das Geld für die Krankenkassenprämie. Der Grund: Die Frau hatte die Rechnung nicht bezahlt. Max Klemenz, der dieses Beispiel schildert, ist der Co-Geschäftsführer des gemeinnützigen Vereins Schuldenberatung Kanton Zürich. Er stösst in seinem Alltag immer wieder auf ähnliche Fälle: Die Klienten hätten zwar gerade ausreichend Mittel zur Verfügung, um die laufenden Kosten zu decken. Sie setzten aber nicht die richtigen Prioritäten – «aus welchen Gründen auch immer», schiebt er im Gespräch nach. In vielen Fällen fange es harmlos an, es bleibe mal da, mal dort eine Rechnung liegen, sagt Klemenz. Aus Angst vor den gravierenden Folgen einer Betreibung werden danach oft primär diejenigen Forderungen beglichen, bei denen die Gläubiger besonders robust auftreten oder bei denen die Schuldner sich zur Zahlung verpflichtet fühlen, zum Beispiel weil sie ein Produkt oder einen Konsumkredit erhalten hatten. Schwerwiegende Folgen Liegen bleiben zum Beispiel die Krankenkassenprämien. Das kann schwerwiegende Folgen haben. Denn werden die Prämienrechnungen zwei, drei oder vier Monate nicht bezahlt, geraten die Menschen in einen Rückstand, den sie kaum mehr aufholen können. So wachsen auch gegenüber Krankenkassen Schulden, und das sind nicht geringe. Laut Klemenz haben von den Personen, die sich an den Verein Schuldenberatung wenden, rund 70 Prozent offene Prämienforderungen. Irgendwann können auch diese zum Gegenstand von Betreibungen werden und, wenn eine Lohnpfändung zur Deckung nicht ausreicht, in einen Verlustschein münden. Spätestens dann betreffen diese Schulden auch den Kanton Zürich. Seit einigen Jahren können die Krankenkassen die Verlustscheine bei den Kantonen einreichen. Diese decken 85 Prozent der Forderungen, im Gegenzug sind die betriebenen Personen weiter versichert. Sollte ein Schuldner später wieder zu Geld kommen und die Prämie nachträglich bezahlen, gibt die Kasse die Hälfte des Betrags an den Kanton zurück. Dabei geht es um stattliche Summen, die tendenziell steigen. Im vergangenen Jahr hat der Kanton den Krankenkassen insgesamt 53,4 Millionen Franken überwiesen, wie der Regierungsrat unlängst in seiner Stellungnahme auf einen SP-Vorstoss festhielt. Das waren rund 20 Millionen Franken mehr als 2012. Das staatliche Geld fliesst dabei aber nicht nur in den Versicherungsschutz: 2019 entfielen 83 Prozent auf offene Prämien und Kostenbeteiligungen. Der Rest wurde von Betreibungskosten (6,5 Millionen Franken) und Verzugszinsen (2,4 Millionen Franken) verschlungen. Wie viele Betreibungen es gibt oder wie viele Personen betroffen sind, lässt sich statistisch nicht genau eruieren. Der kantonalen Sozialversicherungsanstalt melden die Kassen einzig die Anzahl der beabsichtigten Betreibungen und die Verlustscheine. Aufgrund von Angaben aus der Stadt Zürich, welche die Daten auf ihrem Gebiet ausgewertet hat, geht der Regierungsrat für das ganze Kantonsgebiet von jährlich rund 100 000 Betreibungen aus. 40 000 Verlustscheine landen beim Staat Somit stand mehr als jede vierte Betreibung gegen eine natürliche Person im Zusammenhang mit einer Prämienforderung, mehr, als dies bei Steuern der Fall ist. Einschränkend ist jedoch hinzuzufügen, dass Zehntausende von Rechnungen unter Druck noch bezahlt werden. Doch auch so enden etliche Verfahren, ohne dass der geforderte Betrag gedeckt werden kann. 2019 meldeten die Krankenkassen bei der für die Abrechnung zuständigen kantonalen Sozialversicherungsanstalt 41 168 Verlustscheine an. Diese stammten von rund 23 000 Versicherten. Unumstritten ist das System nicht, und auf mehreren Ebenen wird derzeit versucht, an den Stellschrauben zu drehen. Die Zürcher Stadtammänner zum Beispiel führen seit dem vergangenen Jahr ein Projekt, das die Neuverschuldung von Leuten mit Lohnpfändungen dämpfen soll. Man sei 2018 an einem Seminar zu dem Schluss gekommen, dass die Betreibungsämter selber einen recht grossen Hebel hätten, sagt Bruno Crestani, der Stadtammann im Stadtzürcher Kreis 4. Diesen wolle man einsetzen. «In einer besseren Welt gibt es nicht nur weniger Polizisten und Sozialarbeiter, sondern auch weniger Betreibungsbeamte.» Alles dreht sich um die laufenden Prämien: Während einer Lohnpfändung erhalten die betroffenen Schuldner nur jenen Teil ihres Gehalts ausbezahlt, den sie laut dem Betreibungsamt unmittelbar zum Leben brauchen. Der Rest wird für die Tilgung verwendet. Das Problem ist, dass die Ämter die laufende Miete und Kassenprämien nur dann ins sogenannte Existenzminimum einrechnen dürfen, wenn die Schuldner zu Beginn der Pfändung nachweisen können, dass sie die Rechnung bezahlen. Können sie es nicht, fliesst der Posten nicht in die Berechnung des Minimalbetrags ein. Laut Crestani kommt dies ziemlich oft vor. Entweder existieren keine Nachweise, weil keine Überweisung erfolgte, oder dann sind sie nicht auffindbar. Zwar können die Schuldner das Geld für die Prämie beim Amt gegen einen Beleg zurückfordern. Doch im Alltag versäumten das viele, sagt er. Die fatale Folge: Sie häufen neue Schulden an. Das Angebot der Stadtammänner besteht nun darin, dass sie den Schuldnern die Krankenkassenprämien bezahlen – für sie und aus ihrem gepfändeten Lohn. Die Schuldner können die Einzahlungsscheine vorbeibringen oder ihr Einverständnis geben, dass die Krankenkassen ihre Rechnungen direkt ans Betreibungsamt senden dürfen. Was von aussen unspektakulär wirkt, hat laut dem Stadtammann aber einen grossen Effekt: Den Personen wird die Entscheidung abgenommen, ob sie die Prämienrechnung bezahlen wollen oder nicht. Die alten Schulden verschwinden zwar nicht, aber immerhin kommen keine neuen hinzu. Das Projekt sei sehr gut angelaufen, sagt Crestani. Bei den Zürcher Betreibungsämtern, die zur Projektgruppe gehören, gingen sämtliche Kennzahlen, wie Forderungssumme, Anzahl Betriebene und Betreibungen, stärker zurück als bei denjenigen der Kontrollgruppe. Zum Beispiel nahm die Anzahl Betriebene bei ersteren um 9 Prozent ab, bei letzteren um 3,7 Prozent. Auch würden viele Krankenkassen mitmachen und die Rechnung direkt dem Amt zustellen, wenn der Versicherte eingewilligt habe, sagt Crestani. Im Stadtkreis 4 sind im laufenden Jahr schon über 300 000 Franken auf diesem Weg an die Kassen geflossen. Er hofft, dass das Modell bald auf sämtliche Betreibungsämter der Stadt ausgedehnt wird und auch ausserhalb Nachahmer findet. «Sehr hohe Beträge» für die Administration Nicht nur die Zürcher Stadtammänner sind aktiv geworden. In Bundesbern läuft rund um die Schuldenfrage eine Gesetzesrevision, zu der sich die Zürcher Regierung unlängst geäussert hat. Ihr sind primär die Kosten für die Betreibungsverfahren sowie für die Verzugszinsen ein Dorn im Auge: «Dieser Kostenblock sollte so weit wie möglich verkleinert werden», hielt sie in ihrer Stellungnahme fest. Denn bei dem hierfür eingesetzten Geld handle es sich um «sehr hohe Beträge», die für die Administration des Systems statt für die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung eingesetzt würden. So drängt die Regierung darauf, dass die zulässigen, in einer Verordnung festgehaltenen Verzugszinsen gesenkt werden. Den derzeitigen Satz von 5 Prozent kritisiert sie mit Blick auf die Verhältnisse des Finanzmarkts als völlig «überrissen»; angemessen wären maximal 2 Prozent. Auch wartet sie mit einer Idee auf, wie die Kassen einfacher zu ihrem Geld kommen: Wenn jemand schon einen Verlustschein aus jüngerer Vergangenheit habe, solle dies als Nachweis der Zahlungsunfähigkeit genügen, so der Vorschlag. Die Krankenkasse darf sich dann direkt an den Kanton wenden, das Betreibungsverfahren und die Gebühren kann sie sich sparen. Pro Fall wären das 200 bis 300 Franken, die wegfielen. Zudem fordert die Regierung die Klarstellung eines heiklen Punktes: Derzeit ist umstritten, ob die Kassen ihren internen Aufwand für Mahnung verrechnen und als Betreibungskosten geltend machen dürfen. In der Rechtslehre wird die Meinung vertreten, dass sie das dürfen, und dem Vernehmen nach halten sich gewisse Kassen nicht eben zurück. Der Zürcher Regierungsrat spricht sich jedoch dagegen aus. Der Kanton solle die Kosten, die den Versicherern bei der Eintreibung von Forderungen intern entstanden seien, nicht abgelten, schreibt er. Der Verband Santésuisse zeigt sich grundsätzlich offen für eine Diskussion. Für die Krankenversicherer sei wichtig, dass im Inkassowesen möglichst wenig administrative Kosten anfielen, die die säumigen Prämienzahler tragen müssten. Grundsätzlich sei allerdings anzumerken, dass Ausfälle auch all jene träfen, die regelmässig und pünktlich bezahlten, weil sie letztlich dafür aufkommen müssten. Daher sei wichtig, dass die den Versicherern entstehenden Kosten auch tatsächlich beglichen würden. Zu einer Senkung der Verzugszinsen äussert sich Santésuisse zurückhaltend. Ihre derzeitige Höhe bewege sich im üblichen Rahmen, schreibt der Verband. Sie seien die Entschädigung für die Kosten, die durch die verspätete Zahlung entstanden seien. Die Mahn- und Inkassokosten würden belastet, um die Prozesskosten zu decken und die korrekt zahlenden Versicherten schadlos zu halten. Zur Idee des abgekürzten Verfahrens, wenn es schon einen Verlustschein gibt, schreibt Santésuisse, man sei offen für pragmatische Lösungen. Insgesamt hält der Verband die Fragen für «lösbar», sie müssten aber noch vertieft besprochen werden. Schuldenberater empfiehlt ein Lastschriftverfahren Ob die Zürcher Forderungen in Bundesbern mehrheitsfähig sind, wird sich zeigen. Doch selbst wenn dem so wäre, im Alltag des Schuldenberaters Max Klemenz würden sie kaum eine grosse Rolle spielen. Wenn jemand mit Schulden bei ihm anklopft, geht es zuerst darum, sicherzustellen, dass die laufenden Prämienrechnungen bezahlt werden und die Spirale sich nicht weiterdreht. Er versuche, den Ratsuchenden, wenn immer möglich, ein Lastschriftverfahren schmackhaft zu machen, und richte es mit ihnen auch ein, sagt Klemenz. Die Art der Bezahlung habe bei der Schuldenproblematik einen wesentlichen Einfluss, und das Lastschriftverfahren habe eine präventive Wirkung, auch wenn es nicht bei allen Personen funktioniere. Dass Leute mit Schuldenproblemen die ohnehin nötigen Überweisungen automatisieren, ist alles andere als selbstverständlich. Die Umfrage einer Masterstudentin an der Universität Zürich ergab unlängst, dass ein Viertel der Befragten ihre Einzahlungen am Postschalter vornehmen. Rund die Hälfte setzt auf Online-Banking und nur 12 Prozent auf das Lastschriftverfahren. Klemenz hofft, dass das Beispiel der Zürcher Stadtammänner Schule macht und weit über die Stadtgrenzen hinaus Verbreitung findet, wie er sagt. Wenn die Betreibungsämter die Prämien überwiesen, würde das die Chancen vieler Schuldner mit Pfändungen markant erhöhen, der Spirale zu entkommen und wieder eine Perspektive zu haben.