«Die Leute sind aggressiver und dünnhäutiger» Hinzugefügt am 4. Februar 2021 | by Markus Zöbeli | Uncategorized | (Textbeitrag NZZ vom 3. Februar 2021 / von Rebekka Haefeli – mit freundlicher Genehmigung der NZZ-Redaktion und der Journalistin zur Verfügung gestellt) Das Team des Betreibungsamtes im Zürcher Kreis 4 spürt die Auswirkungen der Corona-Krise. Die Pandemie treibt viele Menschen ans Existenzminimum, sie können ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen. Auf dem Betreibungsamt im Langstrassenquartier mehren sich die Anzeichen für eine Flut von finanziellen Dramen. Bruno Crestani steht vor einer Bar im Zürcher Kreis 4. Die Adresse bleibt geheim, denn Diskretion ist eines der obersten Gebote für die Mitarbeitenden des Betreibungsamtes. Crestani poltert mit der Faust gegen den heruntergezogenen Rollladen. Aus dem Hausinneren erscheint ein junger Mann an der Tür und öffnet. Crestani begrüsst ihn und erklärt, der Mann sei von der Polizei. Die Langstrasse im Lockdown Bruno Crestani, der Stadtammann und Chef des Betreibungsamtes im Langstrassenquartier, macht sich an diesem Morgen ein Bild vom Vollzug einer sogenannten Retention. Es ist das Ende dieser Bar im Kreis 4. Der Mieter konnte die Miete seit Monaten nicht mehr bezahlen. Zwei von Crestanis Mitarbeiterinnen halten sich in dem kleinen, miefigen Lokal auf. Die Luft ist abgestanden, das Licht gedämpft. Eine der Mitarbeiterinnen steht hinter dem Tresen und begutachtet das Inventar, die andere führt Protokoll. «Eine Flasche Scotch, drei Flaschen Champagner, fünf Bier in Viertelliterflaschen», zählt die eine Frau auf. «Eine Kaffeemaschine, ein Kassensystem und ein Laptop, der mit einer Musikanlage verbunden ist.» Alles, was nicht niet- und nagelfest ist, wird dokumentiert. Der Hauseigentümer hat wegen ausstehender Mietzahlungen die Retention beantragt. Die Gegenstände, die sich jetzt noch in den Räumen befinden, kann er als Gegenwert für die nicht bezahlten Mieten zurückbehalten lassen. Wenn er will, kann er die Verwertung beantragen. In diesem Fall würden der Alkohol, der Computer und die Barhocker versteigert. Crestani sagt, es sei wahrscheinlicher, dass der Vermieter das Inventar über das Betreibungsamt kaufe und dann dem Nachmieter weiterverkaufe. Nicht selten würden dadurch erhebliche Gewinne erzielt. Wie schnell sich für diese Bar allerdings ein Nachmieter finden lässt, steht in den Sternen. Zurzeit ist es im Kreis 4 so still wie lange nicht mehr. Der Lockdown sorgt selbst an der Langstrasse für relativ ruhige Tage und Nächte. Dominoeffekt befürchtet «Das hier ist erst der Anfang», vermutet der Chef des Betreibungsamtes Zürich 4. «Ich gehe davon aus, dass in der Gastronomie bald eine Art Domino beginnt. Viele Wirte werden ihre Lokale nicht halten können. Einer nach dem anderen wird kippen.» Dabei sah es 2020 gerade noch gut aus. Im vergangenen Jahr mussten fast zwanzig Prozent weniger Zahlungsbefehle ausgestellt werden als 2019. An einen anhaltenden Trend glaubt Crestani unter den jetzigen Umständen allerdings nicht – im Gegenteil: «Ich gehe davon aus, dass dieses Jahr viele Leute ihre Steuern nicht bezahlen können, weil sie in der Corona-Krise auf Kurzarbeit gesetzt wurden oder den Job verloren haben. Die finanzielle Not wird zunehmen.» Die Arbeit seines Teams in der kleinen Bar ist nach einer guten halben Stunde erledigt. Viel gab es nicht zu protokollieren, und der Mieter, der vorab über die Aktion informiert worden war, kam nicht vorbei. Das ist nicht immer so, sagt Crestani: Seine Leute seien schon froh gewesen um die Anwesenheit der Polizei, wenn sich ein Mieter gewehrt habe. Die Mitarbeitenden des Betreibungsamtes kehren in ihre Büros an der Verzweigung Hohl- und Langstrasse zurück. Hier, in den Stockwerken oberhalb einer Coop-Filiale, haben auch die Zustellbeamten ihre Büro-Arbeitsplätze. Die Weibel Enrico Ranieri und Waltraud Saad sind aber nicht oft hier an der Wärme, sondern meist auf den Strassen in Aussersihl unterwegs. Sie arbeiten zuvorderst an der Front: Ranieri und Saad bringen Leuten, die betrieben wurden, Zahlungsbefehle persönlich zu Hause vorbei; manchmal gleich mehrere aufs Mal. Kein Zickzackkurs Der Tag der beiden Zustellbeamten beginnt früh am Morgen. Um 6 Uhr treffen sie sich im Büro und stellen die Dokumente für ihre Touren zusammen. Sie füllen ihre Taschen mit den Zahlungsbefehlen, die sie bis zum Abend zustellen wollen, und packen Eingangsschlüssel ein, die ihnen von Hausverwaltungen zur Verfügung gestellt wurden. Damit haben sie freien Zutritt zu Liegenschaften, in denen Schuldner wohnen, die regelmässig Zahlungsbefehle erhalten. Es sind «Stammkunden», die sie teilweise schon seit Jahren kennen. «Man braucht ein Konzept, bevor man zu seiner Tour aufbricht», sagt Ranieri. Die beiden sind einzeln unterwegs; er mit dem Roller, seine Kollegin Saad mit dem Velo. «Ohne Konzept fährt man den ganzen Tag Zickzack», erklären sie. Bevor sie ausrücken, legen sie sich darum eine Reihenfolge ihrer Besuche zurecht. Wenn sie von einem Klienten wissen, dass er arbeitet, gehen sie vor 8 Uhr vorbei. Von anderen ist bekannt, dass sie ausschlafen: Vor dem Mittag müssen sie es dort gar nicht versuchen. Besuche sind bis 20 Uhr abends und auch am Samstag möglich. Zwei Angriffe im Januar Zu manchen Klienten pflegen sie ein fast kollegiales Verhältnis, wie Waltraud Saad und Enrico Ranieri ausführen. «Man kennt sich, und die Kunden wissen, dass wir auch nur unsere Arbeit machen.» Nicht alle reagieren allerdings souverän, wenn einer der beiden an ihrer Tür klingelt und die schlechten Nachrichten überbringt. «Wir spüren schon, dass sich Corona auswirkt», sagen die Weibel. «Die Leute sind aggressiver und dünnhäutiger.» Ranieri wurde im Januar zweimal tätlich angegriffen, und sein Motorrad wurde beschädigt. Er hat bei der Polizei Anzeige erstattet. Seine Kollegin ergänzt: «Fäkalsprache ist relativ häufig im Moment.» Saad und Ranieri sind beide Quereinsteiger. Er lernte Koch, sie war Coiffeuse und arbeitete später im Service und als Leiterin eines Callcenters. Beide haben Lebenserfahrung und «wissen, wie sie die Leute nehmen müssen», wie es ihr Chef Bruno Crestani ausdrückt. Waltraud Saad erklärt, sie halte Distanz – nicht nur wegen Corona – und ziehe sich zurück, wenn sie merke, dass jemand ausraste oder unter psychischen Problemen leide. Grundsätzlich versuche sie, sich beim Gegenüber durch ein höfliches, aber bestimmtes Auftreten Respekt zu verschaffen. Verzweiflung und Scham Waltraud Saad stellt fest, dass sich die Klientel, die sie aufsucht, zu ändern beginnt. Es seien nicht mehr nur die Damen aus dem Rotlichtmilieu oder andere sozial Schwache, die mit existenziellen Problemen kämpften. Zu den Kunden des Betreibungsamtes gehörten zunehmend auch «ganz normale Mitbürger», die bis jetzt einen Job gehabt hätten. Dadurch ändere sich auch der Umgang. «Was erlauben Sie sich eigentlich? Ich habe einen Rechtsanwalt!», seien Sätze, die sie in letzter Zeit häufiger höre. Zu denken gebe ihr auch die Altersarmut, ergänzt sie: «Häufig können ältere Leute die Krankenkassenprämien nicht mehr bezahlen.» Auf der anderen Seite gebe es Familien, die zu den langjährigen Kunden gehörten – und die Zahlungsunfähigkeit übertrage sich auf die nächste Generation. «Kaum sind die Kinder volljährig, werden auch sie betrieben.» Wer seine Rechnungen nicht mehr begleichen kann, wird oft von Verzweiflung und Schamgefühlen geplagt. Das bekommen Sarah Zumstein und Albenisa Xhemaili zu spüren, die im Pfändungsbüro auf dem Betreibungsamt arbeiten. Zu ihren Aufgaben gehört es, das Existenzminimum für betroffene Personen auszurechnen. Ist jemand berufstätig, wird der Lohn in der Regel direkt beim Arbeitgeber gepfändet. Sarah Zumstein sagt: «Viele Betroffene fürchten, den Job zu verlieren, wenn ihre missliche finanzielle Situation bekannt wird. Meist ist diese Angst nach meiner Erfahrung aber unbegründet.» Zunehmende Einsamkeit Einen grossen Anteil der Klienten im Kreis 4 machen Taxifahrer aus, die zurzeit fast gar kein Einkommen mehr haben, und nach wie vor auch Stripperinnen oder Prostituierte. «Mitarbeiterinnen von Striplokalen haben häufig einen kleinen Lohn und leben von Trinkgeldern», gibt Bruno Crestani zu bedenken. «Durch den Lockdown klafft nun ein riesiges Loch in ihrer Kasse. Wir haben Einblick in Bankkonten, auf denen nur noch 75 Rappen liegen.» Crestani sorgt sich um die langfristigen Auswirkungen der Pandemie. Viele Quartierbewohner seien ohnehin schon einsam und randständig. Sie lebten in einfachen Einzimmerappartements mit Etagendusche und hätten kaum eine Tagesstruktur. «Jetzt, wo die Beizen geschlossen sind, fehlen ihnen diese als Treffpunkte.» Kommt dann noch ein Weibel des Betreibungsamtes mit einem Zahlungsbefehl vorbei, läuft das Fass über. Eine Variante ist dann, die Tür erst gar nicht zu öffnen, wenn Waltraud Saad oder Enrico Ranieri davorstehen. Bis zu fünfmal hintereinander versuchen die beiden, einen Zahlungsbefehl zuzustellen. Dann übergeben sie die Dokumente der Polizei. Nackte Tatsachen Sowohl Saad als auch Ranieri werden auf ihren Touren gelegentlich mit Provokationen oder Ablenkungsmanövern konfrontiert. Beide haben schon erlebt, dass vor ihnen eine Wohnungstür aufging und ein nackter Mann oder eine nackte Frau dastand. Beirren lassen sie sich davon jedoch nicht. «Wir machen unseren Job», sagt Waltraud Saad, «und wir machen ihn trotz gelegentlichen Überraschungen gerne.» Am besten gefällt ihr, dass sie sehr selbständig ist und ihre Touren und die Zeit frei einteilen kann. Das mache die schwierigen Momente wieder wett, findet sie. Eine Grundvoraussetzung, fügt sie an, müsse man als Weibel auf jeden Fall mitbringen: «Man muss die Menschen mögen.»