Eine 25-jährige Zürcherin verliert den Überblick über ihre Finanzen Hinzugefügt am 19. September 2018 | by Markus Zöbeli | Uncategorized | (Textauszug NZZ online vom 19. September 2018 / Reportage von Daniel Fritzsche) Eine junge Frau trifft eine Reihe von falschen Entscheiden und verliert den Überblick über ihre Finanzen komplett. Sie häuft Schulden von über 100 000 Franken an. Am Ende bleibt ihr nur ein Ausweg: der Privatkonkurs. Im Nachhinein war dies ihre Rettung. Andere Menschen geraten wegen eines Schicksalsschlags in die Schulden. Wegen einer Kündigung, einer Scheidung oder eines Unfalls. Nicht so Claudia Perreira (Name der Redaktion bekannt). Die junge Frau schlitterte unbedarft und ohne äussere Einflüsse in tiefrote Zahlen. Im Laufe weniger Jahre häufte sie einen Schuldenberg von weit über 100 000 Franken an. Am Ende war die Last so gross, dass die Zürcherin Privatkonkurs anmelden musste. Ein Akt, der in der Gesellschaft immer noch stark tabuisiert ist, muss doch nicht wie bei einem Firmenkonkurs nur eine Geschäftsidee als gescheitert betrachtet werden, sondern eine ganze bisherige Lebensweise. Dabei deutete nichts darauf hin, dass es mit Claudia Perreira einst so weit kommen könnte. Sie wuchs in einem intakten Elternhaus auf, war ein sparsames Kind. Ihr Sackgeld gab sie nicht sofort für Süssigkeiten aus; sie legte stets einen Teil auf die Seite. Auch zu Beginn ihrer KV-Lehre prasste sie nicht. Die Probleme begannen erst später. Das erzählt die heute 35-Jährige an einem Treffen im Sitzungszimmer der NZZ. Es spricht eine intelligente, klarsichtige Frau – artikuliert und reflektiert. Sie wirkt, als stünde sie mitten im Leben, keineswegs am Rande der Gesellschaft. Heulend im Kleiderschrank An die «schlimme Zeit» erinnert sich Perreira nicht gerne zurück. Alles begann, als sie ihren ersten Freund kennenlernte. Das war gegen Ende ihrer Lehre. «Damals änderte ich meinen Lebensstil», erzählt sie. Plötzlich kaufte sie sich mit ihrem bescheidenen Lehrlingslohn teure Kleider, Schmuck, Accessoires. «Dinge, die ich gar nicht brauchte und die ich mir eigentlich nicht leisten konnte.» Sie lebte fortan «über ihren Verhältnissen», wie man so schön sagt. Oder wie es Perreira ausdrückt: «Ich gab das Geld mit beiden Händen aus.» Fatal war der erste Besuch in einem Casino nahe Zürich. Ihr Freund schleppte sie mit; Perreira fing Feuer. Immer häufiger war sie nun in Spielhallen und an privaten Pokerturnieren anzutreffen. Sie reizte ihre verschiedenen Kreditkarten weit über das Limit aus, zudem nahm sie Konsumkredite auf. Das machte die Lage nur schlimmer. Die hohen Zinsen konnte sie bald nicht mehr zahlen. «Ich tat alles, um rasch zu Geld zu kommen, ohne arbeiten zu müssen.» Unter anderem pumpte sie ihre Eltern und Freunde an, um ihre Spielsucht zu finanzieren. Perreira seufzt, als sie davon erzählt. «Ich war damals ein richtig schwieriger Mensch für mein Umfeld.» Vor etwa zehn Jahren, mit Mitte 20, hatte sie komplett die Übersicht über ihre Finanzen verloren. «Irgendwann hatte ich eine Grenze überschritten, mir war alles egal», sagt sie. Weil sie die Mietzinse nicht zahlte, verlor sie mehrfach ihre Wohnungen. Ihre Finanzprobleme konnte sie nicht länger verheimlichen. An ihrem Arbeitsplatz war sie abwesend; man bot ihr Hilfe an. Ein Gespräch mit einer Sozialberaterin nützte aber nichts. Perreira liess niemanden an sich heran. «Ich wollte nichts hören, nichts sehen», sagt sie. Die hohen Schulden schlugen ihr mit der Zeit auf die Psyche. Mehr als die Hälfte ihres Einkommens wurde direkt gepfändet. Sie hatte Angst vor dem Klingeln des Pöstlers, Angst vor neuen Rechnungen, vor weiteren Mahnungen. Die meisten Briefe legte sie direkt ins Altpapier – eine Bewältigungsstrategie vieler Schuldner. Mehr als einmal stand ein Betreibungsbeamter vor der Türe. Perreira hat sich dann auch schon einmal heulend in einem Kleiderschrank versteckt. «Ich war völlig am Boden», sagt sie heute und schüttelt den Kopf. Im Büro der Tränen Zu jener Zeit fasste die junge Frau einen Entschluss: Entweder finde ich jetzt eine Lösung, um aus dem Schlamassel rauszukommen, oder ich wandere aus. Perreira entschied sich für den ersten und damit schwierigeren Weg. Auf Anraten ihrer Mutter meldete sie sich bei der Schuldenberatung Kanton Zürich, einem privaten Verein, der Menschen in finanziellen Nöten seit über 25 Jahren Unterstützung anbietet. Heute ist der Verein in Zürich-Seebach beheimatet, in einem schmucklosen Bürogebäude direkt neben einem Fitnesscenter. Der Co-Geschäftsführer des sechsköpfigen Teams ist Max Klemenz, ausgebildeter Sozialarbeiter. Er empfängt uns in seinem bescheidenen Büro. «Hier wurden schon viele Tränen vergossen», sagt er. Hohe Schulden führten zu permanentem Stress. «Das schlägt auf die Gesundheit der Betroffenen – auf die seelische und die körperliche.» Seine Klienten kämen oft völlig verzweifelt mit Plastiksäcken voller Rechnungen und Papieren zu ihm – in der Hoffnung, dass er ihnen helfen könne. So sei dies auch beim ersten Treffen mit Claudia Perreira gewesen. «Sie hatte damals keine Freude an mir», sagt er. «Sie hoffte, dass ich ihre Schulden mit einem Fingerschnippen zum Verschwinden bringe.» So einfach und schnell ging das aber nicht. Die Chance, die sich bot Perreira musste zuerst alle Betreibungsämter ihrer letzten Wohnorte abklappern, um ihre effektiven Schulden in Erfahrung zu bringen. Die Summe war mit über 100 000 Franken weit höher als gedacht. Die junge Frau erschrak. Es half ihr aber auch, endlich schwarz auf weiss zu sehen, wie tief sie in der Kreide stand. «Nun wusste ich, woran ich war.» Dann stellte Klemenz ein realistisches Budget auf. Schnell sah er ein, dass eine Schuldensanierung im Fall seiner Klientin unmöglich war. Das Budget zeigte unter dem Strich ein Minus. Man konnte den Gläubigern somit nichts anbieten. Ein Privatkonkurs wäre damals ebenfalls nicht nachhaltig gewesen, das Risiko einer Neuverschuldung war viel zu gross. Klemenz konnte nicht weiterhelfen. Anstatt nach diesem Rückschlag die Hoffnung aufzugeben und noch weiter in die Schulden abzudriften, packte Perreira eine Chance, die sich ihr bot. Eine Freundin empfahl ihr ein Stelleninserat. Perreira bewarb sich und erhielt den neuen Job. Dank einem deutlich höheren Lohn ergaben sich für Max Klemenz von der Schuldenberatung neue Möglichkeiten. Jetzt konnte er mit gutem Gewissen einen Privatkonkurs empfehlen. Das Budget zeigte nun unter dem Strich eine schwarze Null. «Die Chancen auf einen Neubeginn waren damit gegeben», sagt er. Die Schuldenberatung gewährte der Frau ein Darlehen von 5000 Franken, um den Konkurs vor Gericht zu eröffnen. Der Richter willigte ein. Einen Monat später erhielt Perreira zum ersten Mal seit langer Zeit wieder einen vollen, nicht gepfändeten Lohn auf ihr Konto überwiesen. «Das war ein wunderbares Gefühl», erinnert sie sich… Bescheiden, aber glücklich Ihre Schulden verschwanden mit dem Konkurs nicht – ein Irrglaube, dem viele unterliegen –, sie wurden bloss in unverzinsliche Verlustscheine umgewandelt. Als sich die finanzielle Situation nach dem Konkurs weiter verbesserte, schrieb Perreira ihre rund dreissig Gläubiger persönlich an. «Viele haben mir Glück gewünscht auf meinem weiteren Weg», sagt sie. Viele kamen ihr auch monetär entgegen und erliessen ihr einen Teil ihrer Schuld. «Bei jungen Schuldnern sind gewisse Kreditkartenfirmen leider häufig sehr unnachgiebig und verunmöglichen damit eine Schuldensanierung», sagt Klemenz. Seit dem Konkurs vor fünf Jahren hat sich für Claudia Perreira vieles zum Besseren gewendet – auch wenn sie im Vergleich zu früher ein äusserst bescheidenes, vielleicht auch langweiligeres Leben führt. «Ich bin heute viel glücklicher als damals», sagt sie. Ihre Steuern zahlt sie in monatlichen Raten. Für alle fixen Ausgaben wie Krankenkasse oder Miete hat sie Daueraufträge und Lastschriftverfahren eingerichtet. Sie hat sich nicht neu verschuldet – im Gegenteil. Laufend kauft sie Verlustscheine von früher zurück. «Herrlich» sei es, wenn sie einen dieser Scheine mit dem Stempelaufdruck «Bezahlt» in der Hand halte. «Je mehr Schulden ich abzahle, desto leichter fühle ich mich», sagt sie. Für Max Klemenz ist Perreira ein Musterbeispiel, wie ein Privatkonkurs im idealen Fall abläuft. «Sie hat es super gepackt. Anstatt immer weiter abwärts ging es nur noch aufwärts», sagt der sonst nüchtern-korrekte Schuldenberater und kommt fast etwas ins Schwärmen. Seine Klientin sei immer gut vorbereitet gewesen, ihre Akten habe sie fein säuberlich sortiert. «Ich habe auch schon gesagt, dass ich sie sofort bei mir einstellen würde, falls sie sich umorientieren wolle», sagt er und lacht. Klar sei aber auch, dass eine solche positive Entwicklung nicht immer möglich sei. Einen Konkurs empfehle er darum nur, wenn wirklich alle Voraussetzungen erfüllt seien. Bei Personen in instabilen Verhältnissen habe dies oft keinen Sinn. Manchen verschaffe ein Konkurs aber eine nötige Atempause und Stabilität, um sich nicht neu zu verschulden und die Steuern wieder zu zahlen. Das könne sehr wertvoll sein und sei eine grosse psychische Entlastung, sagt Klemenz. Für Claudia Perreira gilt es nun, weiter diszipliniert zu bleiben. Läuft alles nach Plan, ist sie Ende nächsten Jahres komplett schuldenfrei. Ihre Mutter bete jeden Tag dafür, dass sie durchhalte, sagt die junge Frau mit einem Lächeln im Gesicht. «Es ist so schön, dass sie nach all dem, was passiert ist, überhaupt noch mit mir spricht.» Weiterlesen. Mit einem Textbeitrag zu einem einschneidenden Bundesgerichtsentscheid von 2015, der Privatkonkurse beinahe verunmöglicht. In vielen Kantonen halten sich die erstinstanzlichen Gerichte und zunehmend auch die Obergerichte an die neue Praxis – etwa im Aargau und in den Kantonen Neuenburg und Bern. In Zürich ist dies anders. Hier sind Privatkonkurse weiterhin möglich – trotz dem Entscheid aus Lausanne. Schulden – Privatkonkurs? Gibt es nicht mehr!