Zwangsausweisung aus einer Villa eskaliert Hinzugefügt am 8. Juni 2021 | by Markus Zöbeli | Uncategorized | (Textbeitrag / Interview NZZ vom 8. Juni 2021 / von Rebekka Haefeli – mit freundlicher Genehmigung der Redaktion zur Verfügung gestellt) Ein Mann wird aus seiner Zürichberg-Villa ausgewiesen. Er zündet das Haus an und begeht Suizid. Hätte das Drama verhindert werden können? Im Gespräch reflektiert der für den Kreis 7 zuständige Stadtammann mit zwei Berufskollegen das Geschehen und gibt Einblick in die Arbeit der Betreibungsämter. Am Montag, 17. Mai, nimmt eine Tragödie am Zürichberg ihren Lauf. Ein Arzt mit Praxis in dem Haus, in dem er wohnt, legt ein Feuer in der Villa. Anschliessend tötet er sich selbst. Der 65-jährige, schwer verschuldete Mann hätte an diesem Tag aus dem Haus ausgewiesen werden sollen. Die Villa war im Oktober letzten Jahres für 5,8 Millionen Franken zwangsversteigert worden. Vor Ort sind an jenem Montag Mitte Mai ein Grossaufgebot der Feuerwehr und eine Spezialeinheit der Stadtpolizei Zürich. In Hottingen eingefunden hat sich auch Christian Müller, der für den Kreis 7 zuständige Stadtammann und Chef des Betreibungsamtes. Aus nächster Nähe bekommt er mit, dass der Hausbewohner die Türe mit einem Baumstamm verbarrikadiert hat, einen Brand legt und sich dann auf dem Balkon selber tötet. Christian Müller ist bei einem Treffen mit Yves de Mestral und Bruno Crestani bereit, über den Fall und die Hintergründe von Zwangsausweisungen zu sprechen. De Mestral ist Präsident der Konferenz der Stadtammänner und Chef des Betreibungsamtes Zürich 3; Crestani leitet das Betreibungsamt Zürich 4. Unter den Chefs der Betreibungsämter gaben der Suizid und der Villenbrand in den vergangenen Tagen viel zu reden. Herr Müller, Sie waren am 17. Mai selber am Tatort. Wie haben Sie diesen Montagvormittag erlebt? Müller: Ich war dort, weil wir uns bewusst geworden waren, dass es schwierig werden könnte. Ich wollte meinen Vollzugsbeamten vor Ort nicht einfach allein seinem Schicksal überlassen und ihm Rückendeckung geben. An jenem Montag war ich früh dort und erlebte die ganze Aufregung mit dem Brand mit, bis der Hausbewohner Suizid beging. Wir wurden von der Polizei befragt. Meine Leute sicherten anschliessend einige wertvollere Gegenstände aus dem Haus, die gepfändet wurden Was deutete darauf hin, dass die Situation schwierig werden könnte? Müller: Es gab im Vorfeld entsprechende Hinweise. Allerdings trafen die konkreten Indizien erst ganz kurzfristig bei uns ein; etwa eine halbe Stunde bevor die Ausweisung vollstreckt werden sollte. Da war es schon zu spät, um die Tragödie abzuwenden. Die Spezialisten der Stadtpolizei versuchten, mit dem Hausbewohner, der die Türe mit einem Baumstamm verbarrikadiert hatte, ins Gespräch zu kommen. Leider gelang es nicht, diesen fahrenden Zug noch aufzuhalten. Ist es in solchen Fällen von Ausweisungen üblich, dass der Stadtammann selber vor Ort ist? de Mestral: Ja, wenn wir davon ausgehen müssen, dass sich ein Wohnungs- oder Hausbewohner nicht leicht überzeugen lässt, sind wir als Chefs der Betreibungsämter präsent. Wir versuchen im Vorfeld, eine Gefahrenanalyse durchzuführen, was nicht immer ganz einfach ist. Wir werden regelmässig mit drohenden Aussagen konfrontiert. Es gibt immer wieder Kunden, die laut werden, wenn sie mit einem Pfändungsvollzug oder einem Ausweisungsentscheid konfrontiert sind. Die sagen dann «Ich komme bei euch auf dem Amt vorbei, dann werdet ihr etwas erleben» oder «Ihr müsst mich mit den Füssen voran hinaustragen». Wenn wir in jedem Fall den psychologischen Dienst aufbieten müssten, würde dies die Kapazitäten übersteigen. Wir sind gezwungen, in jedem Einzelfall genau abzuwägen, welche Vorkehrungen angemessen sind. Hätten Sie nicht mehr tun können, um die Tragödie abzuwenden? Müller: In meinen Augen haben wir alle nötigen Vorsichtsmassnahmen getroffen. In diesem Fall wurde die Stadtpolizei aufgeboten und wegen des Baumstamms vor der Türe auch die Feuerwehr. Eine Fristerstreckung ist bei einer Ausweisung kaum möglich, da die Grundlage ein Gerichtsbeschluss ist. Nur der Gesuchsteller, also der neue Besitzer, könnte allenfalls Hand für eine Verlängerung bieten, was aber mit Kosten verbunden wäre. In der Regel ist er daran interessiert, eine Liegenschaft möglichst bald neu nutzen zu können. Der betroffene Arzt wurde im konkreten Fall frühzeitig informiert. Seine Villa war ja auch bereits im Herbst 2020 versteigert worden. Dass er keinen anderen Ausweg als den Suizid sah, tut mir sehr leid. Ein solcher Vorfall ist wohl ein Albtraum für jeden Betreibungsbeamten . . . Müller: Sicher, ja. Wobei ich den falschen Job hätte, wenn ich nun ein ganzes Care-Team brauchen würde. Ein solcher Vorfall, bei dem ein Menschenleben ausgelöscht wird, perlt jedoch nicht einfach an mir ab. Wir sind ja keine Maschinen. Ich habe das Geschehene nachträglich mit meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eingehend besprochen. Wir haben uns immer wieder gefragt, was wir hätten anders machen können, haben jedoch keine konkreten Anhaltspunkte gefunden. Crestani: Alle von uns haben schon ähnliche Situationen erlebt. Im Kreis 4 mussten wir einmal eine Frau mit zwei Kindern aus einer Wohnung ausweisen. Der Vater der Frau drohte, er würde alle erschiessen, die in seine Nähe kämen. Wir boten die Polizei auf, die als Erstes in die Wohnung hineinging. Am Ende konnte die Angelegenheit friedlich erledigt werden. In Witikon sorgte im Dezember 2003 ein Familiendrama im Zusammenhang mit einer drohenden Ausweisung für Schlagzeilen. Ein Elternpaar, das hoch verschuldet gewesen war, tötete seine Kinder im Teenageralter und sich selbst. In einem Abschiedsschreiben machte das Ehepaar die Gesellschaft für seine Lage verantwortlich. «Das Magazin» arbeitete die Tragödie auf und zitierte aus dem Abschiedsbrief: «Wir haben aus eigener Kraft und bei vollem Verstand die Tat verübt. Unsere Kinder wären ohne Obdach und ohne Arbeit nur Geächtete dieser Gesellschaft geworden, ohne Rechte auf ein annehmbares und menschenwürdiges Dasein. (. . .) Nur Geld zählt in dieser trostlosen Gesellschaft.» Bei der Aufarbeitung des Falles mehrten sich die Anzeichen dafür, dass die Eltern viele Jahre über ihre Verhältnisse gelebt hatten, sich aber nicht bei der Lösung ihrer finanziellen Probleme helfen lassen wollten. Welche Art der Unterstützung steht neben der Polizei bei einer Ausweisung sonst noch zur Verfügung? Crestani: Wir arbeiten unter anderem mit dem Stadtärztlichen Dienst zusammen, der auch den Bereich Psychiatrie abdeckt. Diese Hilfe nehmen wir bei Ausweisungen in Anspruch, wenn die betroffenen Personen über 65-jährig sind oder wenn es Hinweise gibt, dass psychische Probleme vorliegen könnten. Die meisten Personen, die wir ausweisen müssen, sind uns bekannt, weil sie zuvor betrieben wurden. Bei 95 Prozent der Ausweisungen, die wir vollziehen, sind die Leute mit den Mietzinszahlungen im Verzug. Die meisten übrigen Betroffenen sind durch untragbares Verhalten aufgefallen, das im Haus nicht mehr toleriert werden kann. de Mestral: Daneben gibt es auch noch Fälle von Mietern, die in Abbruchobjekten leben, sich aber weigern, ihre Wohnungen zu verlassen. Müller: Mir ist wichtig, festzuhalten, dass die allermeisten schwierigen Situationen einvernehmlich gelöst werden können. Wir hatten beispielsweise im letzten Winter einen Fall, an den mich der jüngste erinnert hat: Ein arbeitsloser Schuldner drohte anlässlich einer Wohnungsausweisung, er würde sich die Halsschlagader aufschlitzen, wenn sich jemand nähern würde. Nachdem psychologisch geschulte Spezialisten der Stadtpolizei eine halbe Stunde mit ihm gesprochen hatten, öffnete er die Türe und liess uns herein. Wohin gehen die betroffenen Personen nach einer Zwangsausweisung? de Mestral: Einzelpersonen – häufiger sind es Männer als Frauen – kommen oftmals bei Freunden, Bekannten oder Verwandten unter. Grundsätzlich können sich alle Betroffenen ans Sozialamt wenden, das hilft, eine neue Bleibe zu suchen. Infrage kommen Notschlafstellen oder auch Heime. Sonst aber werden diese Personen buchstäblich auf die Strasse gestellt. Es gibt jedoch eine Ausnahme: Wenn minderjährige Kinder betroffen sind, organisiert das Sozialamt eine neue Unterkunft für die Familie. Das kann beispielsweise eine Notwohnung sein. Crestani: Menschen mit psychischen Problemen werden häufig zuerst einmal im Burghölzli, der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, untergebracht. Manchmal ordnet der Notfallpsychiater eine Fürsorgerische Unterbringung an. Ich erinnere mich an meine allererste Ausweisung als junger Betreibungsbeamter im Kreis 4: Wir kamen in eine stockdunkle Wohnung, und als das Licht anging, sass da eine Asiatin in einer Art Yoga-Pose. In ihren beiden Händen hielt sie die Herzen ihrer Rehpinscher, die sie umgebracht hatte. Sie erklärte, sie habe befürchtet, wir würden ihren Hunden etwas antun. Die offensichtlich verwirrte Frau wurde ins Burghölzli eingewiesen. Was geschieht mit den Wohnungseinrichtungen? Müller: Der Hausrat kann nach einer Zwangsräumung im Lager des städtischen Magazindienstes eingelagert werden. Das Lager, das seit mehr als fünfzig Jahren existiert, befindet sich in der Nähe des Technoparks im Kreis 5. Dort sind zurzeit auch die Patientenakten des Arztes vom Zürichberg eingelagert. Die Zahl der gerichtlich angeordneten Ausweisungen ist in der Stadt Zürich in den letzten zehn Jahren stark rückläufig: Im Jahr 2020 wurden in der ganzen Stadt 137 Ausweisungen vollzogen. 2010 waren es 244 gewesen. Das entspricht einem Rückgang um fast 44 Prozent. Spitzenreiter war im vergangenen Jahr der Kreis 11 mit 31 Ausweisungen, vor dem Kreis 9 mit 25 und dem Kreis 4 mit 22 Ausweisungen. Im Kreis 3 waren es 7 Ausweisungen gewesen, im Kreis 7 deren 10. Die drei Stadtammänner Bruno Crestani, Yves de Mestral und Christian Müller sind sich einig, dass der Umgang in Aussersihl tendenziell ruppiger ist als am Zürichberg. Der soziale Abstieg werde im Kreis 7 dagegen wohl von den meisten Betroffenen als schlimmer wahrgenommen als im Kreis 4, vermuten sie. Ist der Fall des Arztes in Bezug auf den gesellschaftlichen Abstieg, der durch eine Ausweisung droht, exemplarisch? Müller: In dieser Hinsicht denke ich schon, ja. Beim Betroffenen handelte es sich um einen offenbar angesehenen Arzt, der mit einem beträchtlichen sozialen Fall rechnen musste. Ich könnte mir vorstellen, dass er sich mit seinem Haus, in dem sich auch seine Praxis befand, stark identifizierte. Das könnte eine Erklärung für seine Kurzschlusshandlung sein. Crestani: Die Angst vor dem Gesichtsverlust, den betroffene Personen am Zürichberg befürchten, ist wohl grösser als rechts und links der Langstrasse, wo überdurchschnittlich viele Leute mit finanziellen Problemen leben. Das bedeutet aber nicht, dass es in Stadtkreisen wie dem unseren bei einer Ausweisung nicht auch ein Eskalationspotenzial gibt. Müller: Umgekehrt gibt es auch bei uns im Kreis 7 sozial schlechter gestellte Personen, die beispielsweise in einem Ein-Zimmer-Appartement leben und sich eines Tages die Miete nicht mehr leisten können. Wie ist das im Kreis 3, in Wiedikon? de Mestral: Wir haben eine sozial stark durchmischte Bevölkerung. Durch die Aufwertung der Weststrasse hat sich die Bewohnerschaft stark verändert. Die Zahl der Betreibungen in diesem Gebiet ist in den letzten Jahren deutlich gesunken. Die Wohnungen sind begehrter und teurer geworden. Das bedeutet, dass sich hohe Mieten nicht automatisch in vielen Betreibungen und Ausweisungen niederschlagen? de Mestral: Nein, im Gegenteil. Viele Leute sind sich bewusst, dass sie, auch wenn sie bereits eine für ihre Verhältnisse zu teure Wohnung haben, keine günstigere finden werden – mit Betreibungen schon gar nicht. Also versuchen sie, mit allen Mitteln wenigstens den Mietzins zu bezahlen, und sparen an anderen Orten. Crestani: Ich sehe das genau gleich. Viele Leute klammern sich an für sie zu teure Wohnungen. Es gibt die Faustregel, dass der Mietzins nicht mehr als einen Viertel des Nettolohnes betragen sollte. Viele Familien leben nicht danach, aber sie wollen unbedingt im Quartier bleiben, etwa weil die Kinder dort zur Schule gehen und sich wohl fühlen. Und ohne dass beide Elternteile arbeiten, können sich viele in Zürich keine Wohnung leisten. Die Villa am Zürichberg ist noch nicht geräumt. Der für den Kreis 7 zuständige Stadtammann Christian Müller erklärt, wenn ein Auszuweisender sterbe, werde die sogenannte Exmission abgebrochen. Es folge dann ein Erbschaftsverfahren oder die Nachlassliquidation durch das Konkursamt. Im jüngsten Fall würden die Patientenakten des Arztes voraussichtlich der kantonalen Gesundheitsdirektion übergeben. Zum Textbeitrag in der NZZ vom 8. Juni 2021: 210608_Zwangsausweisung aus einer Villa eskaliert (NZZ)