Die Krachbarn Hinzugefügt am 16. März 2018 | by Markus Zöbeli | Uncategorized | (Textbeitrag mit freundlicher Genehmigung der SonntagsZeitung vom 4. März 2018 / von Denise Jeitziner und Luca Schenardi/Illustration) Der zwischenmenschliche Umgang ist zunehmend verknorzt. Woran liegt das? In eigener Sache: Bei Nachbarschaftsstreitigkeiten wird im Kanton Zürich immer wieder um die Mithilfe der Gemeinde- und Stadtammannämter gebeten. Dies in Form eines amtlichen Befundes. Die Zahl solcher Gesuche ist tendenziell rückläufig, zudem nicht immer klar ist ob es in der heutigen Zeit wirklich noch in deren Aufgabengebiet und -kompetenz fällt. Zwei Musterbeispiele einer Berufskollegin und eines Berufskollegen: Die Blätter des Nachbarbaumes fallen bei gewissen Windgegebenheiten immer wieder in den Swimmingpool des Gesuchstellers. Notabene wurden die diesbezüglichen Voraussetzungen an einem darauffolgenden Sonntag „erfüllt“. Die Nachbarskatzen laufen täglich durch das stockwerkeigentümergeschützte Einzugsgebiet des Gesuchstellers und hinterlassen infolge Wasserlösens Geruchsemmissionen. Der Berufskollege musste zwecks fehlender Spürnase zwei Mitarbeitende zur befundlichen Geruchsaufnahme mitnehmen. Wie gesagt: Inwiefern solche Befunde noch sinnvoll oder zweckmässig sind ist auch innerhalb des Berufsverbandes nicht unumstritten. Oftmals wird direkt der Gang über die Friedensrichter gewählt (vgl. auch nachfolgenden Textbeitrag). Heutzutage handelt es sich bei Befundaufnahmen in der Regel um Rissbefunde (Bautätigkeiten). Im Kanton Zürich wurden im Jahr 2017 1280 Befunde aufgenommen. Die meist personal- und zeitaufwendige Tätigkeit kann unabhängig von der Ämtergrösse stark variieren. Kaum eine Woche vergeht ohne mediale Nachricht aus der städtischen oder vorstädtischen Kampfzone. Es geht nicht um Leben und Tod, nein, bei uns geht es um Seidenhühner mitsamt Hahn, wegen deren Gegacker und Gekrähe sich zwei Nachbarn bekriegen – Schlagzeile: «Der Hahn kräht zu früh.» Oder um eine Joggerin, die an der Flusspromenade eine Velofahrerin zu Fall bringt, weil sie sich in ihrem Nachmittagstraining gestört fühlt – Schlagzeile: «Joggerin in Pink stösst Rentnerin vom Velo.» Es geht um Anwohner von Sportplätzen, Seen, Kirchen oder Bars, die sich so sehr an Fussballern, Schiffshörnern, Glockengeläute oder Partyvolk stören, dass sie in ein regelrechtes Klagefieber geraten, sodass sich teilweise gar das Bundesgericht mit den Fällen beschäftigen muss. Die allgemeine Stimmung ist gereizt. Zwar werden solche Streitigkeiten statistisch nicht gesondert ausgewiesen, klare Indizien für den zunehmenden Knorz im Miteinander gibt es dennoch. So steigt etwa in der Stadt Zürich die Zahl der Lärmklagen im Schnitt kontinuierlich: 2013 nahm die Stadtpolizei noch 4450 davon entgegen, vergangenes Jahr bereits 5377; das ist eine Zunahme von mehr als 20 Prozent in vier Jahren. Es beschweren sich mehr Frauen, aber ob diese lärmempfindlicher seien oder im Auftrag des Ehemanns anriefen, lasse sich freilich nicht ermitteln, sagt der Mediendienst der Stadtpolizei. Paradies mit gackernden Hühnern Der Lärm der anderen bringt uns besonders zuverlässig in Rage, was auch daran liegt, dass sich unser Gehör nicht ausschalten lässt; es ist ständig im Einsatz, selbst wenn wir schlafen. Das hat die Natur so eingerichtet, damit wir sofort aufwachen, wenn Gefahr droht. Was zu Urzeiten praktisch bis lebensverlängernd war, ist heute nervig bis gesundheitsgefährdend. Viele Studien konnten das nachweisen, auch die laufende Untersuchung «Sirene» unter der Leitung des Schweizerischen Tropen- und Public-Health-Instituts in Basel. So steigt etwa das Risiko von Schlaganfällen, Bluthochdruck, Herzinfarkten oder Diabetes an, je lärmiger es draussen ist. Auch deswegen sehnen sich viele nach der Ruhe auf dem Land, allerdings reicht das Eigenkapital samt Hypothek meist nicht für ein Anwesen mit Umschwung, sondern nur für eine Haushälfte in der Reihensiedlung. Mit der Folge, dass nebenan Nachbarn sind, die ihre Hecke nicht richtig schneiden und wahlweise mit ihrem Laubbläser oder Rasenmäher lärmen. Es ist ja schliesslich ihr Haus, und dort soll man wohl noch machen können, was man will. Dass das erhoffte Paradies auf dem Land nicht nur mit nervenden Nachbarn, sondern eben auch mit gackernden Hühnern und Kuhglocken einhergeht und dass der Mist stinkt, mit dem der Bauer die Felder bestellt, wollen nicht alle einsehen. In vermeintlich idyllischen Vororten ist das Miteinander also genauso herausfordernd wie in der Stadt, vielleicht sogar noch mehr. Darüber weiss Markus Chastonay, Vorsitzender von Cercle Bruit Schweiz, der Vereinigung kantonaler Lärmschutzverantwortlicher, einiges zu berichten. Er und seine Kollegen werden etwa gerufen, wenn sich jemand über die laute Wärmepumpe, Heizung, den Katzenschreck oder den Froschteich des Nachbarn beschwert. Einmal habe einer reklamiert, weil ihm die Grillen auf dem Nachbarsgrundstück zu laut waren. Er verlangte von Chastonay, den Eigentümer anzuweisen, sofort die Wiese zu mähen, um die Grillen zum Schweigen zu bringen. Auch Whirlpools seien vermehrt ein Streitthema. Die kann sich inzwischen jeder leisten und in den Vorgarten stellen, nicht nur weit auseinanderwohnende Villenbesitzer, die niemanden nerven, wenn sie nach 22 Uhr noch in den Pool steigen. Hugentoblers im Hausteil nebenan hingegen fühlen sich dann gestört. « Zuerst die Behörde einschalten All die Streitigkeiten, die man aus dem deutschen Privatfernsehen kennt, die gibt es auch bei uns», sagt Chastonay. Die Klagen häufen sich, was aber nicht an den Lärmschutzrichtlinien liegen kann, denn die Grenzwerte sind seit Jahren unverändert. Neu ist das Verhalten der Leute. «Statt das direkte Gespräch mit den Nachbarn zu suchen, beschweren sich heutzutage viele wegen jeder Kleinigkeit bei der Polizei, einer kantonalen Fachstelle oder sonst einer Anlaufstelle in der Meinung, die würden alles regeln.» Nicht selten landen solche Fälle bei Friedensrichtern wie Regula Berger (Foto), Präsidentin vom Verband der Friedensrichter des Kantons Zürich, die versuchen, die Parteien schlichtend zur Vernunft zu bringen. «Für gewisse Leute ist es aber eine Demonstration von Macht, wenn sie klagen.» Früher hätten die meisten den Gang vors Gericht noch gescheut, heute schienen die Hürden tiefer, und die jüngere Generation habe weniger Hemmungen, juristisch gegeneinander vorzugehen. Berger rechnet in der Regel zwei Stunden für das Gespräch mit den Streitparteien ein. «Nach einer Stunde kommen meist die wahren Gründe für den Nachbarschaftskrach auf den Tisch.» Störfaktoren wie der Lärm oder die zu hoch gewachsene Hecke würden oft nur vorgeschoben. Die wahren Ursachen sind häufig ganz andere – lange zurückliegende Landzuteilungen oder die Lebensweise des anderen, die einem nicht passt. Es mangelt an Anstand und Grosszügigkeit Das Gesetz ist nur bedingt eine Hilfe. Es hält zwar fest, dass jeder verpflichtet ist, den Nachbarn nicht übermässig zu stören. Verboten sind unter anderen unzumutbare Gerüche oder Lärm – umgekehrt muss jeder ein gewisses Mass davon erdulden. Das Tückische daran: Lärm und Gestank sind relativ und vor allem subjektiv. Was ist noch zumutbar und was übermässig, was empfindlich und was rücksichtslos? Das ist nicht immer leicht zu eruieren. Kommt hinzu, dass, was erlaubt ist und was sich gehört, nicht zwingend dasselbe ist. So ist vielerorts zwar nur von 22 Uhr bis 6 Uhr Ruhezeit, was aber nicht heisst, dass man um 6 Uhr mit dem Kind Fangis spielen oder kurz vor 22 Uhr noch staubsaugen sollte. «Früher wäre kaum jemand auf die Idee gekommen, morgens um 2 Uhr sein Auto in die Waschanlage zu bringen, heute haben die Leute deutlich weniger Hemmungen», sagt Lärmschutzexperte Chastonay. Man würde meinen, mit ein wenig Anstand und Grosszügigkeit müsste ein friedliches Miteinander möglich sein. Dass es an beidem mangelt, zeigt sich besonders deutlich an Orten, die sich mehrere Parteien teilen sollten – wie die Flusspromenade. Bei vielen funkt der Egoismus dazwischen, sie sehen sich im Vorrecht und reagieren aggressiv, wenn andere ihnen in die Quere kommen. Ein Konsens ist so natürlich nicht zu finden, am Ende sind oft Regeln nötig, um die Rücksichtslosigkeit in die Schranken zu weisen. Gleichzeitig ist die Empfindlichkeit gestiegen. Gelegentlich ist auch beides vereint in einer Person, wie vor ein paar Wochen in der NZZ zu lesen war. Die Anwohnerin einer Bar an der Zürcher Langstrasse fühlte sich ihres Schlafes beraubt und beklagte sich mehrmals bei den Betreibern der Bar – obwohl sie erst kurz zuvor an die Langstrasse gezogen war, im Wissen, dass es sich um eines der lautesten Quartiere der Stadt handelt. Zudem verkehrte sie selber gerne in der Bar. Erst seitdem diese für ihre Miete aufkommt, gibt die Frau Ruhe. Sie ist bezeichnend für eine Gesellschaft, in der man sich alle Rechte herausnimmt, aber hochempfindlich reagiert, wenn andere dasselbe tun. Ganz nach Kurt Tucholsky: «Der eigene Hund macht keinen Lärm, er bellt nur.» Wohin soll das bloss führen? Seit kurzem wohnen mehr Menschen in der Stadt als auf dem Land, im Jahr 2050 werden es zwei Drittel sein. «Besonders, wenn wir unsere Umgebung als unkontrollierbar empfinden, weil zum Beispiel Lärm in unsere Wohnung dringt, löst dies Stress aus. Das macht uns ängstlicher, vielleicht auch gereizter und respektloser, darum eskalieren Konflikte», sagt Mazda Adli, Stressforscher und Autor des Buches «Stress in der City». Wir kämen nicht umhin, miteinander zu verhandeln, wie wir mit verschiedenen Bedürfnissen umgehen sollen. Je grösser die soziale und kulturelle Diversität ist, je unterschiedlicher die Vorstellung darüber, was sich gehört, desto schwieriger wird es. Zwar ist die Schweiz noch weit vom Dichtestress entfernt, aber die Lärmquellen werden in den kommenden Jahren zunehmen, nicht nur im Verkehr, auch im Alltag und in der Freizeit. Damit rechnet auch das Bundesamt für Umwelt (Bafu). Gleichzeitig gehe der Konsens darüber verloren, wann Ruhe angebracht wäre. Diese Problematik werde kaum mit den bisherigen Ansätzen zu bewältigen sein, schreibt das Bafu, das etwa vermehrt Ruhezonen in Städten schaffen will. Der Stressforscher Adli empfiehlt, der Lärmquelle auf den Grund zu gehen und das Gespräch zu suchen. Alleine schon das könne helfen, entspannter damit umzugehen. Man müsse aber aufpassen, dass dies nicht in einer Kultur münde, in der alles geahndet werde. «Das fände ich ein gruseliges Szenario.» Ist der Mensch denn überhaupt für Nachbarn gemacht? «Ja, wir sind soziale Wesen, Einsamkeit ist fatal für uns», sagt Adli. Wir tun also gut daran, uns mit anderen zu vertragen. Oder wegzuziehen. Der Ruhe zuliebe. Textbeitrag von Denise Jeitziner in der SZ Teurer Nachbarschaftsstreit endet erst vor Obergericht. Man kann sich das sehr gut vorstellen. Da kauft sich einer für sich und seine Frau eine Eigentumswohnung im Zürcher Unterland. Ein Ort und eine Wohnung, die „für die letzte Phase unseres Lebens gedacht“ ist. Und dann wird das Paar, so empfindet er es, von dort „vertrieben“. Vertrieben von einem später zugezogenen Nachbarn, dem es im Mehrfamilienhaus scheinbar an „Anstand und Rücksichtsnahme“ fehlt (Tages-Anzeiger vom 16. März 2018 / von Thomas Hasler). – Weiterlesen. 78% der Klagen gehen nicht ans Gericht Schlichten statt Richten