Sozialhilfe – Wer mehr investiert, spart Geld Hinzugefügt am 25. Juni 2018 | by Markus Zöbeli | Uncategorized | (Textauszug Beobachter vom 21. Juni 2018 / von Jessica King und Daniel Benz) Sozialämter leisten Akkordarbeit – die Zeit für Klienten wird immer knapper. Doch jetzt ist klar: Wenn Gemeinden mehr Sozialarbeiter einstellen, kommen sie viel günstiger weg. An das Glücksgefühl erinnert sich Claudia Almy noch gut. «Endlich wieder richtige Sozialarbeit machen, habe ich gedacht.» Das war im Frühjahr 2015. Die 49-Jährige, die auf der Sozialberatung Winterthur arbeitet, wurde einer Testgruppe zugelost, die bei einer Studie mitmachen konnte. Für sie war es das grosse Los. Plötzlich war sie nur noch für 75 Sozialhilfebezüger verantwortlich. Ihre Kollegen dagegen mussten sich weiterhin um durchschnittlich 145 Dossiers kümmern. Claudia Almy hatte nun das, was ihr zuvor immer und überall gefehlt hatte: Zeit. «Richtige Sozialarbeit» – darunter versteht sie: «Den Einzelfall fundiert prüfen, um herauszufinden, wo der Klient sein Potenzial hat. Und was ihn daran hindert, es zu entfalten.» So liessen sich die wirksamsten Massnahmen für die Wiedereingliederung herausfinden. Die Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) sollte zeigen, ob weniger Fälle pro Mitarbeiter sich günstig auswirken – auf die Kosten der Sozialhilfe und die Qualität der Beratung. Claudia Almys Testgruppe wurde mit der Kontrollgruppe verglichen, dem Rest des Teams, das normal weiterarbeitete. Das Resultat war klar: Wenn die Mitarbeiter für weniger Dossiers zuständig sind, sinken die Ausgaben. Im Winterthurer Experiment sanken die Nettokosten pro Fall und Jahr um 1450 Franken. Das eröffnet dem Sozialamt ein Sparpotenzial von 4,2 Millionen Franken. Mehr Zeit heisst weniger Not. 15 Minuten pro Monat müssen reichen Wenn 145 Dossiers auf einem Sozialarbeiter lasten, hat er gerade mal 3,1 Stunden Zeit für die persönliche Beratung eines Klienten – pro Jahr. Das macht eine Viertelstunde pro Monat. «So wird man nichts und niemandem gerecht», sagt Sozialarbeiterin Almy. «Weder den eigenen professionellen Ansprüchen noch denen der Klienten, die einen Ausweg aus ihrer Notlage suchen.» Durch den vertieften Kontakt könne man besser ermitteln, wo die Ressourcen liegen. Claudia Almys Fazit: «Mehr individuelle Begleitung, mehr Verbindlichkeit.» Die Klienten fühlten sich ernst genommen. Dadurch steige ihre Motivation, ihren Beitrag zur Lösung des Problems zu leisten. Das ist wichtig, weil nach dem sozialen Abstieg das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten ohnehin gering ist. «Allein mit Weisungen und Sanktionen vom Schreibtisch aus lässt sich das nicht bewerkstelligen.» Winterthur ist mit seiner hohen Fallzahl ein Spezialfall. Eine Beobachter-Stichprobe in zwölf Städten und Gemeinden zeigt: Sozialarbeiter betreuen im Schnitt 75 bis 125 Dossiers pro Vollzeitstelle… «Die Arbeit auf dem Amt war keine Hilfe. Es war Armutsverwaltung.» «Die Klienten wissen: ‹Der hat sowieso keine Zeit für mich.›» Ein Sozialarbeiter Eins zu eins können die Resultate der Winterthurer Studie somit nicht auf andere Orte übertragen werden. Die allgemeine Schlussfolgerung ist aber universell gültig. «Eine zu hohe Fallbelastung ist in der ganzen Schweiz ein Problem», bestätigt Stéphane Beuchat von AvenirSocial, dem Berufsverband der sozialen Arbeit. Und die Belastung nehme noch zu: «Viele berichten, dass sie 120 bis 140 Dossiers betreuen müssen.» Es gibt immer mehr Sozialhilfebezüger, und sie brauchen im Schnitt auch immer länger, bis sie wieder auf die Beine kommen. Die Kosten steigen – und die Politik reagiert mit teils radikalen Sparvorschlägen. Als erster Kanton will Bern den sogenannten Grundbedarf, den Bezüger zugut haben, um acht Prozent kürzen. Der Aargauer Grosse Rat hat im März einer Kürzung der Sozialhilfe um 30 Prozent zugestimmt. «Integrationswillige, engagierte und motivierte Personen» sollen gemäss dem Vorstoss von SVP, FDP und CVP eine «Motivationsentschädigung» bis zur Höhe des heutigen Grundbedarfs erhalten. Einen ähnlichen Vorstoss hat der Landrat in Baselland überwiesen. Es sei einfacher, Zusatzbeiträge auszuzahlen, als Renitente mit Sanktionen zu bestrafen, begründet Initiant Peter Riebli (SVP). Mit solchen Massnahmen werden die Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos) systematisch verwässert, an die sich die Kantone bisher gehalten haben… Mehr Einnahmen und weniger Bestrafung … Die Resultate waren aber auch so eindeutig. Zum einen: «Durch eine intensivierte Fallarbeit können mehr Erträge generiert werden.» Will heissen: Dank Unterhaltsbeiträgen, Rückerstattungen und Stipendien, die mit Hilfe der Sozialarbeiter eingefordert wurden, kam mehr Geld herein – Posten, die bei flüchtiger Prüfung leicht übersehen werden. Vor allem aber verdienten viele Sozialhilfebezüger mehr. «Es hat sich gezeigt, dass man sie verstärkt in den regulären Arbeitsmarkt integrieren kann», so Eser. Hochgerechnet resultierten in Winterthur unterm Strich jährliche Einsparungen von 1,5 Millionen Franken – trotz Mehrausgaben für zusätzliches Personal. In dieser Bilanz nicht eingerechnet ist ein anderer Spareffekt: Personen, die enger begleitet werden, finden schneller aus der Sozialhilfe heraus. Sie sind weniger lang auf Unterstützung angewiesen. Ein dritter Befund der Studie freut Forscherin Eser ebenfalls: «Durch die verbesserte Kooperation mit den Klienten mussten die Sozialarbeitenden weniger Sanktionen aussprechen.» Die positiven Erkenntnisse hatten in Winterthur handfeste Folgen. Das Stadtparlament bewilligte elf zusätzliche Stellen für die Sozialberatung. «Die Reorganisation läuft auf Hochtouren», sagt Dieter P. Wirth, Leiter der Sozialen Dienste. Man nähere sich schrittweise dem Ziel, dass ein Sozialarbeiter nur noch 75 Dossiers bearbeiten müsse. Fürs Erste erhofft sich Wirth eines: «Dass die Wirkung schnell einsetzt.» Andere Ämter ziehen nach Was in Winterthur und Biel geglückt ist, peilen auch andere Sozialämter an. Und mit der Winterthurer Studie haben sie nun einen neuen Pfeil im Köcher: den Beleg, dass sich mit mehr Stellen Kosten einsparen lassen. «Die Studie ist so wertvoll, weil sie empirische Zahlen liefert zu Erfahrungswissen, das grundsätzlich schon lange vorhanden ist», sagt etwa Turi Schallenberg vom Amt für Soziale Dienste in Frauenfeld TG. Dort wurde mit dieser Argumentation ein Stellenausbau politisch durchgeboxt, genauso in Emmen LU. Hier konnte die Falllast pro 100-Prozent-Stelle auf 75 Dossiers gesenkt werden – von 129 im letzten Jahr. Ein Modell macht Schule. Weiterlesen. Junge und Migranten im Fadenkreuz. Angriff der SVP auf die Sozialhilfe: Die Höhe der Zahlungen soll von der Anzahl Steuerjahre abhängig gemacht werden (Tages-Anzeiger vom 19. Juni 2018 / von Claudia Blumer). Weiterlesen. Höhere Mieten für Sozialhilfebezüger. Wer in der Stadt Zürich von der Sozialhilfe abhängig ist, darf mehr für seine Miete ausgeben als bisher. Die Zahl der Bezüger insgesamt steigt (NZZ vom 26. Juni 2018 / von Michael von Ledebur). Weiterlesen. Sozialhilfebezüger dürfen teurere Wohnungen mieten. Die Stadt Zürich erhöht die Mietzinsobergrenze für Sozialhilfebezüger. Und lässt sich das geschätzt eine Million Franken kosten (20 Minuten vom 26. Juni 2018 / sda). Weiterlesen. Eine ausführliche Reportage von Jessica King und Daniel Benz