Wenn die Briefe ungeöffnet bleiben Hinzugefügt am 22. März 2024 | by Markus Zöbeli | Uncategorized | (Textbeitrag Tages-Anzeiger vom 14. August 2023, aktualisiert am 8. März 2024 / von Jessica King) Erledigungsblockade – Rund fünf Prozent der Bevölkerung fühlen sich bei vermeintlich einfachen Aufgaben blockiert, zahlen Rechnungen nicht, füllen die Steuererklärung nicht aus. Mit heftigen Folgen. Sie kam mit einer riesigen Tasche, in die sie über ein Dutzend Ordner gequetscht hatte. Darin waren Briefe, Rechnungen, Mahnungen, Zahlungsaufforderungen und Betreibungsandrohungen der letzten Monate und Jahre verstaut. Jedes Mal, wenn sie eine Rechnung erhielt, hatte sie sie hier irgendwo abgelegt – ohne sie zu bezahlen. Als sich Elena Schär (Name geändert) Hilfe suchte, waren ihre Finanzen bereits ausser Kontrolle. In ihrer Verzweiflung machte sie einen Termin in der Praxis für Ergotherapie beim Berner Bollwerk, die sich auf solche Problematiken spezialisiert hat. «Bei den ersten Treffen haben wir alle Briefe und Rechnungen durchgearbeitet, sortiert und mit einem neuen System eingeordnet», sagt Schär. «Das dauerte über fünf Stunden.» Alleine die Mahngebühren betrugen über 1000 Franken, die Betreibungskosten waren viel höher. Insgesamt hat Schär heute Schulden von über 70’000 Franken. Die innere Lähmung Wie konnte es so weit kommen, warum hat sie das Nötigste nicht einfach erledigt? Elena Schär sitzt am Holztisch in der Ergotherapiepraxis, sucht nach Worten. «Ich konnte einfach nicht», sagt sie dann. «Es ging nicht.» Ihre Therapeutin Ruth Joss greift ein und übersetzt: «Sie war überfordert, entwickelte Ängste – daraus wurde eine Erledigungsblockade.» Joss und ihr Team behandeln Personen, die sich bei bestimmten Aufgaben im Leben – auch vermeintlich einfachen wie dem Öffnen von Briefen – wie gelähmt fühlen. Laut Fachliteratur leiden rund 20 Prozent der Bevölkerung an einem Aufschiebeverhalten, der sogenannten Prokrastination. Noch viel mehr kennen das Phänomen bei der Steuererklärung, die sie zu spät einreichen. Vielleicht fünf Prozent, schätzt Joss, entwickeln aber eine Erledigungsblockade, die ernsthafte Konsequenzen für ihr Leben hat. Wie Elena Schär. So machen die Blockierten nicht nur Schulden, werden betrieben oder für die Steuern zu hoch eingeschätzt, sondern entwickeln oft psychische Symptome: Depressionen, Süchte, Ängste. Auch physisch wirkt sich das jahrelange hohe Stresslevel aus. «Mit Folgen wie Schlafschwierigkeiten oder einem dauerhaft zu hohen Puls», sagt Joss. Die Menschen leiden sozial, verlieren Freunde. Bei der Arbeit werden sie abgewertet, weil sie als unzuverlässig gelten. Und immer wieder haben Blockaden juristische Konsequenzen, weil die Betroffenen Anmelde-, Einsprache- oder Antwortfristen verpassen, Bussen nicht bezahlen – «und dafür manchmal auch ins Gefängnis müssen», sagt Joss. «Einen Brief für andere Menschen könnte ich problemlos öffnen. Aber ist er an mich adressiert, gehts nicht.» Wenn der Leidensdruck so hoch ist – warum öffnen die Menschen nicht einfach die Briefe und zahlen die Rechnungen? Bei Elena Schär fing die Blockade bei einer schweren Depression an, erzählt sie, mittlerweile hat sie heftige Ängste, wenn sie an ihre Situation und ihre Finanzen denkt. «Einen Brief für andere Menschen könnte ich problemlos öffnen», erklärt sie. «Ist er aber an mich adressiert, gehts nicht.» Laut Ruth Joss besteht eine Blockade aus negativen Gefühlen, die sich so auftürmen, dass die Betroffenen die Aufgabe als unüberwindbar empfinden. Sie erstarren, weichen der Situation aus und entwickeln eine tiefe innere Überzeugung: Es geht nicht. So seien manche Leute beispielsweise ausgesprochen perfektionistisch – das Gefühl, etwas nicht perfekt zu machen, sei derart unangenehm, dass sie eine Aufgabe gar nicht erst anpacken können. ADHS und die Folgen Viele, die in der Praxis behandelt werden, haben ADHS. Wie Selina Frey (Name geändert). Die Heilpädagogin hat keinen Schuldenberg wie Elena Schär, zählt aber eine lange Liste an Blockadefolgen auf, die ihr Leben bis heute erschweren. So musste sie etwa ein Jahr an der Universität aussetzen, weil sie es versäumt hatte, sich rechtzeitig einzuschreiben. Die Bücher für die Vorlesungen hat sie jeweils erst zwei Wochen vor den Prüfungen gekauft, konnte deshalb nie genug lernen. Wenn sie sich heute bei der Arbeit für einen Kurs registrieren muss, schafft sie das häufig nicht: «Mein Gefühl sagt mir, dass das mit einem derartigen Aufwand verbunden ist, dass es einfach zu viel wäre.» Auch Freunde hat sie vergrault, weil sie es verpasst, auf Whatsapp-Nachrichten zu antworten und diese ihr Verhalten als mangelndes Interesse fehlinterpretieren. «Bevor man sich die richtige Hilfe holt, denkt man nicht, dass man Erledigungsblockaden hat», sagt Selina Frey. «Man ist überzeugt, dass man faul und dumm ist.» So sinke das Selbstwertgefühl immer mehr. Erholt fühlt sich Frey eigentlich nie. Auch wenn sie nichts macht und sich ausruht, ist sie angespannt: Ihr ist stets bewusst, dass noch etliche To-dos auf ihrer Liste warten. Dieser Zustand sei typisch, sagt Ruth Joss. So führten die Stresshormone im Blut und die Daueranspannung oft zu Burn-outs und können die Blockaden zusätzlich verstärken: «Das Unterbewusstsein schreit nach Erholung und schiebt deshalb unangenehme Aufgaben noch weiter auf.» Was wiederum mehr Stress generiert. Drei obligatorische Vorsätze Rund 100 Patientinnen und Patienten behandeln Ruth Joss und ihr Team derzeit – vom Bedarf her könnten sie das Team verdreifachen, sagt sie. Viele Betroffene melden sich selbst, andere werden weiterverwiesen von Psychiaterinnen, Psychologen, Sozialarbeiterinnen oder anderen Ämtern. Mit der Folge, dass die Praxis die Warteliste abschaffen musste, weil sie zu lang wurde, und aktuell niemanden neu aufnimmt. In der Behandlung löscht Joss zuerst akute Brände: Sie begleitet die Patienten und Patienten dabei, wie sie Briefe öffnen, Rechnungen zahlen, Telefonate tätigen oder sich für Prüfungen registrieren. Später lehrt sie sie, wie Aufgaben am besten zu erledigen sind – dass sie etwa statt mit To-do-Listen mit maximal drei Vorsätzen am Tag arbeiten sollen. «Diese werden definiert, terminiert und sind obligatorisch», sagt Joss. «Die einzigen zwei Gründe, die Vorsätze nicht zu erledigen, sind ein Meteoriteneinschlag oder ein Erdbeben in Bern.» Wesentlich sei die Arbeit mit Gefühlen, sagt Joss. So bringt sie den Patientinnen und Patienten bei, dass negative Emotionen keine Tatsachen sind, sondern natürlich vergehen, wenn man sie als Gefühle erkennt und spürt. «Und wenn Betroffene einmal die Erfahrung machen, dass ein Gefühl sich auflöst, das sie vorher als unüberwindbar empfunden haben – dann lernen sie mit Blockaden umzugehen und werden handlungsfähiger», sagt sie. Ruth Joss wünscht sich mehr Wissen und Verständnis für die Problematik. «Die Betroffenen sind stark stigmatisiert, ihr Verhalten wird falsch interpretiert», so die Ergotherapeutin. Das merke sie etwa bei den Ämtern, mit denen sie für ihre Patientinnen und Patienten telefoniere und wo sie oft Abwehr erlebe. Sie ist überzeugt, dass eine offizielle Anlaufstelle existieren sollte, die niederschwellig unterstützt – das wäre nicht nur für die Betroffenen sinnvoll, sagt sie, sondern käme den Staat möglicherweise günstiger. Denn so könnten Abwärtsspiralen verhindert werden. Abwärtsspiralen wie bei Elena Schär. Mittlerweile wird ihr Lohn gepfändet, sie erhält das Existenzminimum. Was dazu führt, dass sie neue Rechnungen teilweise nicht zahlen kann. Etwa zuletzt die Krankenkassenprämien, weil sie im gleichen Monat eine Betreibungsandrohung einer anderen Firma erhalten hat. «Und das gibt wiederum neue Betreibungen der Krankenkasse.» Aktuell überlegt sie sich einen Privatkonkurs, sagt Elena Schär, ihre Stimme zittert. Ruth Joss, die neben ihr am Tisch sitzt, schüttelt den Kopf. «In solchen Fällen müsste das Betreibungsamt doch einfach früh eingreifen», sagt sie. «Und nachfragen: Was ist los, dass die Rechnungen nicht beglichen werden?»